Erwin Wickerts Bekenntnisse  GENAU gelesen                                   

(„Mut und Übermut – Geschichten aus meinem Leben“ 1991)                                                       verfasst 8/2012

Der deutsche Schriftsteller und Diplomat Erwin Wickert (1915-2008) gewann in der zweiten Hälfte des 20.  und zu Beginn des folgenden Jahrhunderts   einige Bekanntheit:  als Schriftsteller, vor allem aber als „China-Kenner“ und als Kritiker des damaligen Grünen Außenministers Joschka Fischer.

Wickert sprach von einer Position aus, die ich als „scharf rechts“ empfinde, Wickert  nahm aber immer für sich in Anspruch, ein unvoreingenommener Zeitgenosse zu sein, erst recht kein Antisemit und kein Nazi.

In seinem autobiographischen Text „Mut und Übermut – Geschichten aus meinem Leben“, Stuttgart 1991 (Taschen­buchausgabe 1993) hat er sich  deutlich geäußert. Seiner Reputation trug das  in Deutschland - so mein Empfinden - keinen Schaden ein; die Ausgabe 1993 aus dem Heyne-Verlag (die ich im Folgenden zugrundelege) zitiert auf dem Umschlag uneingeschränkte  Bewunderung: Für den Rezensenten der Tageszeitung „Die Welt“ war Wickert ein „Mann des humanistischen Abendlandes, doch mit einer zarten Schlagseite zum Fernen Osten“;  in der FAZ werden  der Autor der  Autobiographie und sein Buch gefeiert als „souveräner Beobachter des Weltgeschehens… ein fulminantes Lese-Abenteuer!“

Lautes öffentliches Echo erhielt Wickert noch einmal Jahre NACH dieser Autobiographie als Kritiker von Außenminister Joschka Fischer. Für mein Empfinden las man erst  in der 2011 erschienenen Geschichte des Auswärtigen Amts „Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“ etwas, das an Wickerts Reputation kratzt.

Der  Verfassers dieses Textes gewann bei der Lektüre den Eindruck:   GENAUE  Lektüre der Autobiographie hätte schon vor zwanzig Jahren  zu einer „kritischeren“ Einordnung Wickerts führen können und sollen. Vf meint: Die Autobiographie wurde nach ihrem Erscheinen von zumindest einigen  Rezensenten sehr „kursorisch“ und grundsätzlich  Wickert-freundlich gelesen. Vf meint nach der Lektüre der Memoiren: ein Idol sollte „dekonstruiert“ werden……

Im folgenden zitiere (und kommentiere) ich entlang dem Buchseiten-Strang (der auch einigermaßen dem Lebenslauf entspricht) zahlreiche  Passagen aus „Mut und Übermut“.

Die FÜLLE der Zitate kann vom Leser als langweilig empfunden werden, scheint mir aber unvermeidbar, um  ein klares – und im Effekt ent-heroisiertes - Bild Wickerts zu gewinnen und zu belegen. Trost an jene, denen es der Beispiele zu viel sind: Analysiert wird hier  höchstens die Hälfte des Buchs.

Nun denn.

Wickert urteilt  in seinen Memoiren über die  „Zwanziger Jahre“ insbesondere in der Reichshauptstadt: Die „Berliner Welt“ war ein Ort der „Scham- und Bedenkenlosigkeit“ (S. 92). Ebenso locker verallgemeinert Wickert eine Seite weiter:  „die deutsche expressionistische Literatur war gewalttätig, zerstörerisch, begeisterte sich an der Oktober-Revolution, bejahte die Gewalt“. Als Beleg für sein weitreichendes Urteil zitiert Wickert einen einzigen Autor, Bert Brecht. Als ZEUGEN  für die Richtigkeit seiner Wertung  zieht Wickert den  (meines Empfindens für diese Zeugenschaft denkbar ungeeigneten) Philosophen Theodor Lessing heran, der bereits 1933 von Faschisten ermordet wurde; Theodor Lessing habe „zu Recht von der ‚Wolfsmoral‘ der deutschen Nachkriegsgesellschaft“ gesprochen (S. 93). Das ist ein Urteil, das Wickert in dieser Strenge über das Dritte Reich NICHT  fällt.

Ich meine:  Wenn hier schon jemand als „scham- und bedenkenlos“ zu beurteilen ist, dann der Autor Wickert. Schon der Umstand (der auch Wickert bekannt gewesen sein muss), dass Theodor Lessing sofort nach der Machtübernahme aus Deutschland flüchtete (und, wie bald darauf erkennbar, mit gerechtfertigter  Befürchtungen), der Umstand, dass Theodor Lessing sich vielfach kritisch über die wachsende und dann regierende NSDAP geäußert hat (Texte, aus denen Wickert viel hätte lernen können, wenn er denn gewollt hätte), und der Umstand, dass Lessing  bereits im Sommer des Jahres 1933 in seinem Zufluchtland Tschechoslowakei  ermordet wurde, alle diese „Umstände“ hätten ihm, Wickert, sagen können, dass Theodor Lessing als Zeuge für seine Verurteilung „Weimars“  ungeeignet ist; Wickert fühlte sich ja im Dritten Reich  wohl, wie man immer wieder an seinen  Schilderungen aus den folgenden Jahren merkt; und, um das gleich zu erwähnen:  Wickert bekennt in dem Buch  ausdrücklich, dass er niemals (!) eine militärische Niederlage des Dritten Reichs gewünscht habe (s.u. und 320).

(Wiki zu Theodor Lessing: „Am 30. August 1933 schossen die nationalsozialistischen Attentäter Rudolf Max Eckert, Rudolf Zischka und Karl Hönl[9] durch das Fenster seines Arbeitszimmers auf Lessing und trafen ihn lebensgefährlich. Am folgenden Tag erlag er im Alter von 61 Jahren im Krankenhaus von Marienbad (Mariánské Lázně) seinen Verletzungen. Die Attentäter entkamen nach Nazi-Deutschland.“, mehr: http://www.literaturatlas.de/~la14/Der%20Mord.htm  )

Typisch für viele Deutsche mit „Schlagseite“ nach rechts ist, dass sie, wenn es um Epochen-Abgrenzungen  geht, nicht  von „nach 1945“ oder genauer  von „nach dem Dritten Reich“ sprechen, sondern stets von „nach dem Krieg“. Das ist auch bei Wickert die wiederkehrende  Formulierung (z.B. S. 270, S 272). Der Zweite Weltkrieg erhält damit einen Eigenwert als Faktor; der Krieg kann  für vieles verantwortlich gemacht werden, wofür man, wär man nur tapfer genug,  das DRITTE Reich in die Pflicht nehmen müsste.

Beeindruckt hat mich  das Wickertsche Kapitel über zwei einstige Kunstgeschichte-Lehrer des Studenten Wickert an der Uni Heidelberg.

Grade mal  zwei Sätze fallen über den Kunsthistoriker Prof. August Grisebach (Seine „Vorlesungen waren manchmal poetisch. Er liebte die Schönheit.“), die VIELfache Text- und Bewunderungsmenge  gilt seinem Nachfolger im Amt,  dem Kunsthistoriker Schrade. Dass Grisebach und Schrade auf spezifische  Art lebensgeschichtlich verknüpft waren, davon erfahren wir von Wickert in seinem vergleichsweise langen Schrade-Kapitel  nichts; Wickert erzählt uns nicht, dass Schrade davon profitierte,  dass der Ordinarius Grisebach „jüdisch versippt“ war; Grisebach musste gehen; Schrade  konnte ihn als Ordinarius  ablösen

(vgl. Wiki über Schrade; dort die genaueren Verweise. „Schrade trat 1933 dem Kampfbund für deutsche Kultur bei und propagierte in martialischer Sprache die nationalsozialistische Revolution. Der aus Hamburg vertriebene Kunsthistoriker Erwin Panofsky warnte seine Kollegen an der Basler Universität ausdrücklich vor dem Denunzianten Schrade.[2] - Im Jahr 1937, nach der Lockerung der Mitglieder-Aufnahmesperre der NSDAP, konnte er Mitglied der NSDAP werden. An der Amtsenthebung August Grisebachs, der wegen seiner Ehefrau Hanna als „jüdisch versippt“ galt, war er wesentlich beteiligt. Schrade wurde daraufhin 1938 in Heidelberg Ordinarius.“)

Wickert verfasste nach 1945  einen Persilschein für Schrade – auch davon lesen wir in seiner Autobiographie nichts, dafür muss man andere Quellen heranziehen (Vgl:  Hille, Das Kunsthistorische Institut der Universität Tübingen und die Berufung von Hubert Schrade zum Ordinarius im Jahr 1954, S. 183;  Dietrich Schubert, Heidelberger Kunstgeschichte unterm Hakenkreuz. Professoren im Übergang zur NS-Diktatur und nach 1933).

Dass Schrade drastische NS-„Lyrik“ produzierte, darüber erfahren wir von seinem Schüler, Promotionszögling und designierten Assistenten Erich Wickert  NULL, aber viel Hehres lesen wir bei Wickert  über Schrades Ansichten vom  Bild Gottes in der orientalischen Kunst (S. 273).

Wickert erzählt von einem Gespräch mit dem Schriftsteller Dolf Sternberger Ende der Siebziger Jahre; Sternberger qualifizierte dabei Schrade kurz und knapp als Nazi. Wickert schränkte damals gegenüber Sternberger (und auch beim Verfassen der Autobiographie)  kräftig ein: „Das war er wohl. Eine Zeitlang. Im Grunde aber ein religiöser Mensch.“ Schrade, so Wickert, habe später mit dem NS „gehadert“. - Einen Beleg für dieses angebliche Hadern bleibt Wickert  schuldig (obwohl er sich sonst mit präzisen Zitaten gern brüstet).

Beiläufig  kriegen in diesem Zusammenhang der Schriftsteller Harry Graf Keßler und der Kunstschriftsteller Meier-Graefe ihr Fett ab: Die beiden,  so Wickert, hätten „vom Kunstmarkt“ „eine Allerweltskunst“ „gewünscht“ (274). Diese abfällige  Beurteilung  Wickerts  ist auch deshalb bemerkenswert, weil Keßler wie Meier-Graefe  zum Dritten Reich in klarer Distanz standen; Keßler flüchtete 1933 nach Frankreich; Graefes Verdienst als Kunstschriftsteller und –vermittler westeuropäischer Kunst nach Deutschland zu seiner Zeit ist schwer zu überschätzen. Graefe vertrat ein Kunstideal, das  keinesfalls zum Kunstideal des Dritten Reichs passte.

Vom Thema „Entartete Kunst“ lesen wir bei Wickert keine Zeile, obwohl er in jener Zeit, als hohe Nazis die Künstlerverfolgung in Schandausstellungen kulminieren ließen,  Kunst studierte…….. und studierte  bei einer damaligen NS-Kunst-Koryphäe, dessen  Assistent er werden sollte – wär nicht das Auswärtige Amt dazwischengekommen.

Ich erlaube  mir ein solches Sprechen vom  NICHT-Thematisierten, weil Wickert selbst Erlebnisse in Deutschland durchaus zum Anlass nimmt für  Überlegungen  zu weitab liegenden  Zeiten (Antike) und Ländern (Ostasien, USA).

Ausführlich setzt sich Wickert mit dem Buch von Karl Jaspers „Die Schuldfrage“ auseinander (280f). Er kritisiert, dass Jaspers seinen „Rigorismus manchmal zu weit“ treibe. Seine Begründung dieser Wertung: „Loyalitätskundgebungen“ gegenüber dem Dritten Reich „waren notwendig, nicht nur, um zu überleben, sondern um in wirklich entscheidenden Fragen moralisch handeln zu können. Im Widerstand zum Beispiel.“

Aber die mögliche Frage, wie viel Menschen im Dritten Reich denn „in wirklich entscheidenden Fragen moralisch“ handelten, beantwortet  Wickert nicht genauer als mit dem Wort „der Widerstand“.  – Bei der Zitierung „des Widerstandes“ sollte nicht vergessen werden, dass eine ganze Reihe Widerständler erst zum Widerstand fanden, als ein katastrophales Ende NS-Deutschlands zu befürchten war und als schon jede Menge „Dinge“ passiert WAREN,  bei denen „moralisches Handeln“ nötigst gewesen wäre, aber nicht stattfand (was die deutschen Militärs angeht, insbesondere in der Sowjetunion). Der sonst  gern präzise Wickert schreibt keine Zeile über  NS-Vergehen  VOR der Reichspogromnacht und bei Erwähnung dieser besonderen Nacht ist nur von der  Zerstörung von Synagogen die Rede,  nicht davon, dass jüdische Menschen  gelyncht und ermordet wurden.  Nirgendwo lesen wir bei Wickert etwas von der Inhaftierung linker oder auch demokratischer Politiker schon in den ersten Tagen des Dritten Reichs, sehr ausführlich wird hingegen geschildert, wie drei einst anscheinend linke „Arbeiterdichter“ auf die NS-Linie einschwenken (Max Barthel, Karl Bröger, Heinrich Lersch S. 110ff).

Zurück zu Jaspers „Die Schuldfrage“. Bei seiner Ablehnung des Jaspers’schen Satzes „daß wir leben, ist unsere Schuld“ beruft sich Wickert auf „die Jahre in Ostasien“, Ostasien, wo man eben vieles anders sehe. Dass japanische Regierungschefs zu den Gräbern von Männern pilgern, die den Krieg gegen die USA eröffneten und führten, davon lesen wir bei Wickert nichts. Solche Pilgerfahrten und überhaupt die Art, wie die Japaner ihre verbrecherischen Aktionen im eroberten China nach 1945  ahndeten (das heißt: GAR NICHT ahndeten)  wären ein gutes Argument, sich beim Thema „Schuld“  ANDERS als Wickert NICHT  auf östliche Vorbilder zu stützen.

Für Wickert ist der Satz „dass wir leben, ist unsere Schuld“ ein klares Ärgernis. Dieser Jaspers’sche Satz wurde aber nicht nur von Jaspers geäußert, sondern von mehreren vor allem jüdischen  Menschen, die  deutsche KZs überlebten: Sie empfanden sich so wie Jaspers  als  schuldig,  weil sie überlebt hatten, wo so viele andere Verfolgte (und „edlere“, so die Einschätzung des KZ-Überlebenden und Schriftstellers Primo Levi) NICHT überlebten.

Indes, ich vermute, auch wenn KZ-Überlebende ihr Überleben als schuldhaft einstufen, wäre das für WICKERT kein Grund, seine Kritik am „jüdisch-christlichen Schuldbegriff“ zurücknehmen oder doch zumindest weniger selbstbewusst vorzutragen. „Null Zweifel an sich selbst“ – das ist die prinzipielle Haltung des Menschen und Autors Wickert.

Ein „reizvolles“ Detail lesen wir auf S. 282. Da erzählt Wickert, die jüdischstämmige  Frau von Karl Jaspers  sei von „Viktor von Weizsäcker,  „Ordinarius für Innere Medizin, Bruder des Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker“,  „gelegentlich gewarnt“ worden, „wenn Abholungen zu befürchten waren.“ (S. 282) Abgesehen von der  verhüllenden Wortwahl „Abholung“ (für Deportation) erkennen wir: Ein Bruder des Staatssekretärs, jemand, der als Psychiater mit Juden-Deportationen beruflich nichts zu tun hatte, wusste von diesem „Vorgang“; wie viel mehr, nehme ich an,  muss also sein Bruder im Auswärtigen Amt davon gewusst haben, jemand, der NACH dem Dritten Reich nicht unschuldig genug sein konnte.

Schön, dass Wickert eine Aussage von Jaspers aus dem Jahr 1947 oder 48 ihm, Wickert gegenüber, zitiert: „Die konservativen, alten Gegenkräfte (gemeint: in Westdeutschland) sind zu stark: ich würde mich an ihnen aufreiben.“

Jaspers begründet mit dieser Feststellung unter anderem, dass er  damals dem  Ruf auf einen Philosophie-Lehrstuhl an der Uni Basel folgte; Jaspers ging ins Nachbarland aber   auch wegen seiner Frau, die - als jahrelang von der Vergasung bedrohte - nicht länger in Deutschland leben wollte. Wickert zu diesem Umzug in die Schweiz kurz und bündig: „Der Umzug war ein Fehler“ – Warum? – das sagt er uns nicht.

Der Fall Jaspers ist für Wickert ein Anlass, von „NS-Schikanen“ gegen Jaspers zu sprechen, aber im selben  Atemzug den  NS-Philosophen Krieck reinzuwaschen: Dieser habe  sich für das Ehepaar Jaspers „tatkräftig und nicht nur beiläufig eingesetzt“. WIE Krieck das tat, erzählt uns Wickert NICHT.   Zumindest was FRAU Jaspers als JÜDIN betrifft, darf man die Behauptung Wickerts über Krieck  („tatkräftiger Einsatz“) bezweifeln.

Jaspers‘ späteres Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik“ (1966) erregte bei seinem Erscheinen Wickerts Unmut; er äußerte diesen Unmut  gegenüber Jaspers, dem er schrieb: „Ich kenne viele Schriftsteller, gehöre zur Hälfte ja zu ihnen, aber ich habe bei den Belletristen unter ihnen zwar viel hehre Gesinnungsethik, die nichts kostet, ansonsten aber nur Mangel an Sachverstand, leichtfertige Urteile, Ignoranz und Arroganz angetroffen. Eine gräßliche Mischung.“  (286)

(Was mich an dieser Passage peinlich berührt, ist, dass Wickert hier eine Ethik, deren Befolgung  „nichts kostet“, rügt, aber in seinem eigenen Verhalten gegenüber dem Dritten Reich durchaus die „Kosten“ als zulässige Rechtfertigung verwendet fürs   Leisebleiben und Parieren.

Auch im Fall Jaspers spart Wickert nicht mit deutlichen Worten: „Vor dem Kriege“ (sic!) sei Jaspers für ihn „Wegweiser und Halt gewesen“, aber „sobald er sich aus Basel zur deutschen Tagespolitik äußerte“, wurde er „ein oberflächlicher, der Realität entfremdeter Beobachter, den man nicht immer ernst nehmen konnte.“ (S. 288) In den letzten Lebensjahre habe er bei Jaspers „Starrsinn, gesteigerte Empfindlichkeiten und Mangel an Konzentration“ bemerkt.

Eine weitere schöne Stelle für das jederzeit unberührte Selbstwertgefühl Wickerts: „Jaspers‘ ethischer Rigorismus… hat auch mich lange in Fesseln geschlagen….,  so daß ich die Bunten Farben des Lebens und der Welt nur durch den grauen Schleier strenger ethischer Gebote sah. Erst in einer großen Leidenschaft habe ich mich später daraus befreit, ohne doch den Ernst seines Fragens und Denkens aufzugeben“ (288). Das ist  ein seltsamer, in sich widersprüchlicher Satz: Den „Ernst des Denkens“ möchte Wickert natürlich gern für sich in Anspruch nehmen, das macht sich einfach gut, aber NICHT  akzeptieren möchte er die ihm unangenehmen Verhaltensweisen, die aus der Bejahung einer strengen Ethik folgen würden. Kurz: Wenn bei Wickert Ethik und Leidenschaft zusammenstoßen, zieht erstere den kürzeren………

In der Zeit der „Sudetenkrise“ (bei Wickert selbstverständlich OHNE Anführungszeichen) fürchtete Wickert und sein Freundeskreis , „Hitlers riskante Politik könne zum Krieg führen; daß er Krieg wollte, unterstellte ihm niemand.“ (S. 290) (Wickert vermerkt  nicht, dass es in Deutschland – oder damals bereits vorwiegend im EXIL  – durchaus Deutsche gab, die schon lange der Ansicht waren und diese öffentlich vertreten hatten, dass Hitler Krieg WOLLTE und dass er diesen Krieg  vom Amtsantritt an mit entsprechender Aufrüstung plante…..)

Nach der Reichspogromnacht, schreibt  Wickert, habe er „niemand getroffen, der Verständnis für eine solche Barbarei zeigte. Niemand.“ – Wenn ich diesen Satz lese, fällt mir  meine zentrale Empfindung ein bei Äußerungen sehr vieler Deutscher nach 45: „Wir haben nichts gewusst.“  - Einige Jahre später, in Japan, hatte Wickert direkten und häufigen Umgang mit dem „Schlächter von Warschau“. Diesen hat Wickert sicher nie nach seiner Einschätzung der Pogromnacht gefragt…..

Im Mai 1939 wurde Wickert zur Musterung beordert. Er fürchtete sich vor dem Militärdienst, aber „nicht, weil ich die Anstrengungen scheute, ich war auch nicht Pazifist“ – wohlgemerkt: im damaligen Deutschland! – sondern, weil er glaubte, den Rekruten würde beim Militär „der freie Wille“ gebrochen.“ (298). Aber, fährt er fort, diese „Sorge war gewiß übertrieben. So viele andere, viel Schwächere, hatten die Demütigungen des Dienstes und die beiden Jahre Stumpfsinn ertragen.“  -

Ich frag mich:  mit wie viel wirklich FREIEM  Willen danach……?  Und wozu benötigt man  Freien Willen, wenn man die Kosten, die mit der Ausübung von Freiheit verbunden sein können, scheut?

Auch als der Krieg näher rückt, sah laut  Wickert „niemand von denen, die ich sprach,“ „ein, daß dieser Krieg notwendig war.“ S. 300. Das genügt ihm als Beleg für die – nicht ausgesprochene, aber notwendig zu folgendernde - Ansicht, die Deutschen seien grosso modo okee gewesen und hätten mit dem Nationalsoziaismus wenig oder gar nichts am Hut gehabt…..

Wickert hat  - neben den „KOSTEN eines Widerstands“ - eine eigene Große Theorie für die Rechtfertigung seiner Anpassung ans Dritte Reich;  er entfaltet diese Theorie   unter dem Stichwort „Der Dämon und das Dämonische“ S. 302ff. Hitler ist für Wickert solch ein Dämon.  ‚Das Dämonische‘ sei „nur ein Wort für das Unerforschliche, das schicksalhaft, von uns Menschen nicht beeinflußbar, unseren Weg bestimmte, und dem wir uns, wie ich meinte, nicht entziehen konnten, sondern das wir tragen und dem wir uns unterwerfen mußten“.

Schöne Worte………….die wir uns auch bei anderer Gelegenheit wünschten…….

Ein weiterer  Beleg für Wickers stählernes Selbstwertgefühl: Im Kapitel über das Auswärtige Amt, in dessen Dienste Wickert im Oktober 1939 trat, schreibt er, er wolle etwas zu diesem Amtseintritt sagen: „Nicht um mich zu verteidigen; denn dafür sehe ich keinen Grund, auch sonst nirgendwo in diesem Buch.“ (309).

Wer hat „das Bild des Dritten Reichs“, fragt Wickert, nach 1945 „verfälscht“?  Als  erste Verfälscher nennt Wickert eine recht unbestimmt bleibende Gruppe: „seit der Entnazifizierung, als jeder ein Widerstandskämpfer gewesen sein wollte“: Bei der zweiten  angeblichen Verfälschergruppe ist Wickert nicht weniger schwammig:  „primitive Vorstellungsklischees, mit denen die Achtundsechziger-Generation aufwuchs“. Nun, der Verfasser dieser Zitaten-Sammlung, Zitaten-Analyse und -Kritik, gehört zu dieser „Achtundsechziger-Generation“ und erinnert sich  gut an mehrere Gymnasiallehrer, die im Unterricht auch noch ums Jahr  1960, also 15 Jahre post festum,  ein  positives Verhältnis zum Dritten  Reich äußerten:  Einer, Latein- und Griechischlehrer, erzählte begeistert, wohlgemerkt im Lateinunterricht,  davon, wie er mit anderen deutschen Soldaten in ukrainische Dörfer einmarschierte und wie ihnen die Frauen mit offenem  Oberkörper als Geste der Unterwerfung gegenüber dem Sieger entgegentraten  – „wie die Gallierinnen gegenüber dem siegreichen Feldherr Cäsar“. Einer meiner  Geschichtelehrer kritisierte die Attentäter des 20. Juli, weil deren Aktion  zur Folge gehabt habe, dass sie, die armen Landser in den vordersten Linien  im Baltikum, in ihrem Abwehrkampf gegen die Bolschewiken mangelhaft mit Nachschub versorgt wurden. Um meinerseits ein Bekenntnis abzulegen: Eine Seite an den Achtundsechzigern, die ich immer dankbar erinnern werde, war, dass sie zu den ersten gehörten, die  in Deutschland auf die BRAUNE Vergangenheit ihrer Universitätslehrer hinzuweisen. Das hatten diese Lehrer selbst nicht für nötig befunden, und ebenso nicht die Umgebungsgesellschaft, natürlich auch keineswegs jemand wie Erwin Wickert.

Wickert hat kein Problem, beim Thema „Arbeit für das Auswärtige Amt“ Konfuzius als seinen Fürsprecher ausführlich zu zitieren: „Ein Amt ablehnen heißt, seine Pflicht vergessen. Wer nur seine persönliche Reinheit und Unschuld bewahren will, der findet sich mit der Unordnung in den gesellschaftlichen Beziehungen ab. Der gebildete edle Mensch dagegen übernimmt öffentliche Ämter und verwaltet sie pflichtgemäß. Daß die Gebote der Sittlichkeit sich nicht durchsetzen werden, das weiß er.“ (310)

Ich finde,  schöner kann sich ein braver Mitmacher nicht einkleiden als mit einem solchen Zitat. - Ich bezweifle aber, dass Wickert ALLEN Sätzen des Konfuzius so begeistert  zugestimmt hätte, etwa des Konfuzius abfälligen Urteilen über das weibliche Geschlecht.

Während der BERLINER Zeit im Auswärtigen Amt wohnte Wickert mit seiner Frau bei einer Frau Heinersdorf. Ein Kollege aus dem „Amt“ fragte  Wickert spitz, ob er wisse, dass diese Frau mit einem Juden verheiratet sei, der in Paris lebe, und dass Frau Heinersdorf  mit diesem jüdischen Ehemann eine Tochter habe, die also Halbjüdin sei; sprich: es sei  für einen angehenden Diplomaten nicht angebracht,  länger in einem solchen Haus zur Miete zu wohnen (315f). Wickert hält sich  - seinem Erzählton nach zu folgern -  etwas darauf zugute, dass er bei der Vermieterin Heinersdorf  auch NACH dieser halbamtlichen  Demarche NICHT auszog. Andererseits stellte er aber doch nach diesem Gespräch einen Antrag auf Aufnahme in die Partei.

MICH hätte sehr interessiert, was aus jener Frau eines Juden und was aus der halbjüdischen Tochter wurde? – Dazu finde ich auf den 530 Seiten des Buchs keine weiteren Angaben. GROSS kann die Anteilnahme Wickerts am Schicksal jener verfolgungsgefährdeten Frau und ihrer Tochter also nicht gewesen sein. Überhaupt scheint Wickert nie viele jüdische Deutsche gekannt zu haben; er zählt bei Gelegenheit grade mal einen einstigen – unsympathischen – Klassenkameraden auf und eine „Edith“ in Vevey. Vielleicht war sein begrenzter Bekanntenkreis  eine Folge der elterlichen Erziehung, die sich Wickert gar nicht vergegenwärtigt hat (Sein Vater war ein entschiedener Vater, der den Sohn auch in die SA schickte).

Auch bei der unmittelbar folgenden Geschichte hätt ich gern mehr gewusst: Ein Mitarbeiter des „Amts“, Gert Rühle,  befürchtete,  für die Nichtbefolgung einer Anweisung von Amtschef Ribbentrop  mit dem LEBEN büßen zu müssen. Rühle  reagierte auf diese Androhung  Ribbentrops  in seinem Amtszimmer brüllend; ein ruhiger Kollege sagte zu ihm nur: „‚Herr Geheimrat, Sie haben sich an Ihrem Mantel den einen Ärmel ganz weiß gemacht.‘ – Da brach Rühle zusammen.“ – Was Wickert hier andeuten will (ich vermute, er will etwas andeuten), habe ich nicht erkannt.

Man könnte diese Kürze Wickerts entschuldigen, wenn Wickert ein APODIKTISCHER Stilist wäre, einer, der sich in Andeutungen gefällt. Aber das ist Wickert keinesfalls;  vieles in seinem Buch wäre ohne inhaltlichen Verlust kürzer formulierbar.

Ein klares Bekenntnis legt   Wickert ab im Zusammenhang mit dem Westfeldzug (320): „Ich habe nie, auch später nicht, unsere militärische Niederlage gewünscht“.

Ich merke dazu an:   OHNE diese Niederlage wären die Übeltaten des Dritten Reichs wahrscheinlich  noch lange weitergegangen, zumal  die deutschen Offiziersattentäter  zögerlich zu Werk gingen und die Widerständler nur eine vergleichsweise kleine Gruppe in einem überwiegend von Hitler-begeisterten Offizierskorps bildeten. Nach dem Misserfolg des „20. Juni“ war im Militär nirgendwo mehr Widerstand festzustellen.

Der klarste Satz zum Thema „Stop oder Fortdauer des Dritten Reichs“  stammt bekanntlich von dem einstigen CDU-Minister Norbert Blüm:  die KZ-Öfen rauchten nur so lange, so lange der deutsche Soldat kämpfe. Bekanntlich erhielt Blüm auf diesen Satz in den 80er  Jahren so viel Gegenwind, dass er ihn nie mehr äußerte.  Blüm hatte einen der empfindlichsten Punkte der „deutschen Seele“ getroffen…

EINmal zitiert Wickert die harsche Kritik eines Kollegen am  Dritten Reich, wohl die harscheste im ganzen Buch: „einfach zum Kotzen“(320). - Nun, was war für diesen Kollegen Wickerts  zum Kotzen - und so wichtig, dass Wickert es erzählt? - die Protz-Architektur des Dritten Reichs in Berlin-Mitte…..

Als ob es damals, Anfang der Vierziger Jahre, nicht unvorstellbar viel Schlimmeres gegeben hätte, das Brechreiz hätte hervorrufen müssen.

Für die Fahrt zu seinem neuen Außenamts-Arbeitsort Shanghai benutzt Wickert die transsibirische Eisenbahn. Mit ihm sitzen auch jüdische Deutsche im Zug, die nach Shanghai flüchten. Auf dem Bahnhof

Irkutsk sieht Wickert polnische Juden und hört, diese würden verschubt, ohne zu wissen, wohin.  Wickert:  „Es war ein bedrückender  Anblick, vor allem aber für die in dem Luxuszug in die Freiheit reisenden  deutschen Juden. Manch einer hatte Tränen in den Augen.“  Ein fataler  Satz! Zur Erinnerung: Die deutschen Juden, die nach Shanghai flüchteten, hatten  kaum eine Chance, anderswo unterzukommen, weil andere Länder keine jüdischen Deutschen aufnehmen wollten, die allermeisten dieser Shanghai-Reisenden wären  sicher hundertmal lieber in einem europäischen NACHBARland untergekommen als in Ostasien;  Shanghai war für viele verfolgte deutsche Juden eines der letzten Schlupflöcher. Dann:  einen ANDEREN  Eisenbahnzug als diesen angeblichen „Luxuszug“ gab es für diese Juden nicht.  Diese jüdischen Deutschen hätten gern auf einen solchen Luxuszug verzichtet, wenn sie nicht das Schlimmste für einen weiteren Aufenthalt in Deutschland befürchtet hätten (zu RECHT befürchteten, wie die weitere Geschichte erwies). Wickert geniert sich nicht, zu schreiben, sie seien „in die Freiheit gereist“. Schließlich  wurden die deutschen Juden in Shanghai großenteils  ghettoisiert; es war dort für die meisten unter ihnen alles andere als „Freiheit“, es gibt begründete Zahlen, dass 2000 jüdische Menschen in dem von den japanischen Eroberern begründeten Ghetto umkamen; für viele war diese Flucht sowieso finanziell der Ruin. - Wickert unterstellt, dass die DEUTSCHEN Juden angesichts polnischer Juden so etwas wie ein schlechtes Gewissen haben mussten – das ist schon ein HIT:  Wenn in jenem Zug nach China einer ein schlechtes Gewissen hätte haben müssen, dann der  Angestellte des DEUTSCHEN REICHS, Erwin Wickert, der in Shanghai eine gutbezahlte Stelle antrat, mit Pensionsanspruch für die Zeit nach der Rückkehr…

Über Shanghai im Jahr 1940 erzählt Wickert, es hätten 70.000 Ausländer in der Stadt gelebt, „darunter zweitausend Deutsche“. Bei diesen Deutschen  zählt Wickert  - ohne mindeste Scham - die aus Deutschland GEFLÜCHTETEN jüdischen Deutschen NICHT. Laut http://de.wikipedia.org/wiki/Shanghaier_Ghetto waren  zeitweilig bis zu 20.000 Juden in Shanghai zwangsuntergebracht, größerenteils Juden aus dem Deutschen Reich – das VIELfache der von Wickert zitierten „2000“. Wie oben bereits erwähnt, sollen in dem Ghetto allein zweitausenden Menschen an den Folgen der unmenschlichen Unterbringung gestorben sein.

Aus Anlass einer Befassung mit seinem Botschaftskollegen Richard Sorge (1895-1944), der später von japanischen Ermittlern als Spion für Russland geoutet wurde, vergleicht Wickert Stalin und Hitler:   In solchen Fällen spricht er wie viele Deutschen nach dem Dritten Reich nicht von der „NS-Diktatur“ oder von „Nationalsozialisten“, sondern allzeit brav nur von dem EINEN „Hitler“. Meine Empfindung:  Auf diesen inzwischen TOTEN Mann kann und konnte alles Schlechte abgewälzt werden. Mehrfach betont Wickert, wie erwähnt, dass keiner seiner Gesprächspartner die Pogromnacht für gut befunden habe. Dass es aber doch begeisterte Nazis auch in seiner unmittelbaren Umgebung gegeben haben muss, das ergibt sich aus der ausführlichen Erwähnung des „Polenschlächters“ Meisinger, der in Tokio sein Vorgesetzter an der Deutschen Botschaft war.

Wenn Wickert sich über die Sowjetunion und den Marxismus auslässt, attestiert er dem Marxismus eine „pseudoreligiöse Kraft“. Warum diese Kraft PSEUDOreligiös  sein soll im Gegensatz zu ECHTER religiöser Kraft,  das erfahren wir nicht. Wenn ich  als wesentliche Elemente einer Religion Glauben, Pflichten, Hoffnungen und auch die Existenz von Märtyrern ansehe, dann  schneidet der Marxismus, verglichen mit anderen Religionen, nicht schlecht ab. Aber für Wickert ist der Fall einfach: Religionen gut, Marxismus schlecht….

Was ein Verbrechen ist und was kein schlimmes Verbrechen ist, auch dazu erfahren wir etwas von Wickert. Aus Anlass des Angriffs japanischer Soldaten auf den US-Militärhafen Pearl Harbour schreibt Wickert: „Ich hielt den Angriff für einen heimtückischen Überfall mitten im Frieden; für schlimmer als Hitlers Überfall auf die Sowjetunion. Denn den hatte man ja kommen sehen; darüber hatte man wochenlang gesprochen.“ – Hier zeigt sich eine eigenartige  Rechtsauffassung Wickerts: Zwischen der Sowjetunion und dem damaligen Deutschland gab es immerhin einen NichtangriffsPAKT; dergleichen gab es damals zwischen den USA und Japan nicht, aber  es gab die klare Drohung der USA gegen Japan, wenn sich Japan  nicht aus dem von ihm besetzten China zurückzöge, werde man die Erdölversorgung blockieren…..

NACH dem Krieg befasste sich Wickert weiter mit diesem Überfall der Japaner, er schreibt, er sei schwankend geworden in seinem Urteil über „Verbrechen oder nicht“: „Ich war nie sehr gut darin, zu richten und schuldig zu sprechen, und je älter ich werde, desto mehr nimmt diese so schwach in mir entwickelte Fähigkeit ab. Heute steht es damit ganz schlimm.“ (393). - Ein Blick auf zahlreiche von mir hier zitierte Sätze Wickerts  zeigt, dass Wickert auch zur Zeit der Abfassung seiner Autobiographie, also als 75jähriger, noch sehr überzeugt urteilt und VERurteilt - mit ziemlicher Blindheit auf dem rechten Auge.

Wickert fährt S. 393 fort: „Ich wollte und will ja nicht verurteilen, sondern verstehen.“  Der Mann, der dies von sich schreibt, schwärmt (65 Seiten weiter) davon, seinen Vorgesetzten an der deutschen Botschaft in Japan, Meisinger, den „Schlächter von Warschau“,  umzubringen, was er selbstredend wegen der Gefahr, erwischt zu werden, NICHT tat, auch nicht versuchte. Dann wieder ein ganz kurioser  Satz: Er habe damals erwartet:  „Wenn es“ (gemeint: mit Meisinger) „noch lange so weitergeht, werden eines Tages einige von uns“ (und auch Wickert selbst) „vor der Frage stehen: er oder wir.“ – Die deutschen Botschaftsangehörigen hatten aber bis dahin schon so viel geschluckt, dass dieser Satz Wickerts gänzlich unglaubwürdig wirkt.

Der Duktus dieses Abschnitts lässt annehmen, Wickert halte sich etwas  zugute auf seine Wut auf Meisinger. Nun, es scheint ihm nicht bekannt gewesen zu sein: Auch  mehrere NS-Größen waren  schlecht auf Meisinger zu sprechen – also: es war keinesfalls eine  Leistung, diesen Mann als eklig zu empfinden. Das taten sogar seine Kollegen, an denen ordentlicher NS-Überzeugung kein Zweifel bestehen kann.

Dem  damals, nach der Niederlage Deutschlands, noch in Japan lebenden Wickert wird (wenn wir ihm glauben wollen) erst NACH dieser Niederlage bekannt,  was sich in den Vernichtungslagern zutrug. Dazu schreibt Wickert  in seiner Autobiographie „Ich verstand nicht, wie eine Rassentheorie dazu führen konnte, eine derartige Tötungsmaschinerie zu entwerfen und in Gang zu setzen.“ - Nun, meine ich: die Theorie wird nur ein TEIL der Faktoren gewesen sein, Personen waren wohl ungleich wichtiger; vor allem aber hätte Wickert spätestens bei diesen Schreckensnachrichten  erkennen können, ja: erkennen müssen: in bestimmten Situationen kommt es nicht mehr darauf an, zu VERSTEHEN, sondern etwas zu TUN, dem Rad der Vernichtung in die Speichen zu greifen. „Verstehen“ ist in solchen Situationen nur das Verfahren, dem TUN aus Weg zu gehen.

Wickert bekennt (S. 468):  „Ich war nicht entsetzt darüber, daß es Deutsche waren, die diese Tötungsmaschine errichtet und betrieben haben, sondern ich war entsetzt über den Menschen überhaupt, der solcher Taten fähig ist.“ (468). - Damit hat Wickert den „Ranken“ gekriegt, um aus einem zunächst schlicht NATIONALEN Problem ein MENSCHHEITLICHES  zu machen und damit das Ausmaß  seiner Verantwortlichkeit als Zugehöriger zu einer bestimmten Nation kräftig zu reduzieren. 

Zwar schreibt Wickert, er könne sich der „Mitverantwortung“ nicht entziehen, aber dieses  - anscheinende  - Eingeständnis wird sofort wieder zurückgezogen, wenn Opfer oder deren Angehörige aus der Mitverantwortung Deutscher finanzielle Folgen ziehen:  „politische oder finanzielle Forderungen“ aus den Untaten des Dritten Reichs  sind schlicht und einfach „schamlos“ (468).

Damit diese schamlosen Juden (oder vielleicht auch Russen oder Kreter oder Italiener oder Tschechen oder Serben)  auch noch nachträglich eins in die Fresse kriegen, wird eine Theorie, die die Schuld über Täter auf folgende Generationen hinaus ausdehnen will, als „atavistisches, alt-testamentarisches (sic!) Denken“ geschmäht.

In solchen Fällen vermisse ich  die sonst von Wickert gern berufene Ich-möcht-doch-nur-verstehen-Haltung;  HIER verzichtet er aufs Verstehen, hier verurteilt er.

Wickert setzt noch eines drauf: „viele Christen“, „Protestanten zumal“ litten nach dem Dritten Reich an einer „eingeredeten Schuld“; „ihr Gewissen ist von Grund auf verbogen.“ (469)  Auch hier, wenns ums deutschnationale, vielleicht gar faschistische Eingemachte geht, hat Wickert nicht das geringste Problem, zu urteilen und HARSCH zu urteilen.

Die US-Soldaten marschieren in Japan ein. Sie nahmen den NS-Aktivisten Meisinger fest. Wickert: „Die Amerikaner vernahmen ihn, aber wohl nicht gründlich genug, über seine Untaten während des Krieges in Tokio. Sie übergaben ihn bald den Polen. In Warschau wurde er gehängt. Sit ei terra levis.“ (513) – Wickert zitiert da einen  antiken  Segensspruch: Möge ihm die Erde leicht sein.

Der Verfasser dieses Textes hat nicht die gesamte Autobiographie durchgeackert. Bereits das,  was er las, empfand er als, vorsichtig formuliert, sehr  anstrengend. Der Sinn einer solchen Anstrengung ist gering, wenn er bedenkt, wie wenig sich Menschen für die hier angeschnittenen Themen interessieren.

Der Verfasser bittet,  sowohl Ansichten, die ihn bestätigen, wie Ansichten, die ihm widersprechen, schriftlich mitzuteilen  Veit.Feger@t-online.de - (August 2012)

 

Die Autobiographie Wickerts kann auch anders "gelesen" werden.
Der einstige Professor für Literaturwissenschaft Walter Hinck befasst sich in seinem Sammelband "Selbstannäherungen - Autobiographie im 20. Jahrhundert von Elias Canetti bis Marcel Reich-Ranicki" (2004) mit gut vierzig autobiographischen Texten deutscher Sprache in Buchform; eine diesser Biographien ist die von V. Feger vorstehend auf ihre NS-Bezüge hin gelesene Autobiographie Erwin Wickerts (Hinck, S. 51-58).

Schön ist, dass wir bei Hinck erfahren, dass der Vater von Erwin Wickert bereits 1931 der NSDAP beitrat und "während des Zweiten Weltkriegs" (letzteres ist in Deutschland die übliche, verschleiernde Formulierung für einen Teil-Zeitraum des Dritten Reichs) "Polizeidirektor in Wittenberg und Obersturmbannführer der SS" war. Wir erfahren von Hinck auch, dass Papa Wickert auch noch fünf Jahre NACH dem Dritten Reich, 1950, auf die '"Wiederkehr eines radikalen Nationalozialismus" hoffte und sich als Antisemit bekannte. - Diese genauen Angaben vermissen wir in der Autobiographie Wickerts, sie machen uns das Braune an dem Sohn eines Obersturmbannführers verständlich. Hinck erzählt sogar, dass das Verständnis des Sohns für seinen Vater "so dehnbar" war, dass sich "die Spannung im Vater-Sohn-Verhältnis nicht zum Generationenkonflikt verschärft." Wie schön! -
Wir erfahren von Hinck zwar, dass Wickert in Kunstgeschichte promovierte, aber nicht, dass sein Doktorvater ein Nazi war (Wickert versucht in seiner Autobiographie eine Mohrenwäsche).
Als ob es ganz unproblematisch sei, propagandistisch fürs Dritte Reich zu arbeiten, zählt Hinck die beruflichen Stationen Wickerts nach dem Studium in unschuldigem Berichtston auf: Die Berufswahl wirft "keine besonderen Probleme auf. Im Auswärtigen Amt winkt dem Rundfunkautor die Mitarbeit im Referat für den Auslandsfunk, und schon bald folgt die Abordnung als Rundfunk-Attaché an die deutsche Botschaft in Tokio. Diemal geht die Reise nicht übers Meer (der Krieg ist ausgebrochen), sondern über die Transsibirische Eisenbahn." (53). - Klar, dass für den
Schönredner Hinck der Zweite Weltkrieg mit dem Angriff auf Polen "ausbricht" , nicht etwa, dass der Zweite Weltkrieg von Deutschland planmäßig herbeigeführt wurde. Solche Formulierungen wirken ein eigenartiges Licht auf die Nennung zweier jüdischer Deutscher im Titel und die Widmung des Buchs an M. Reich-Ranicki.... (Sommer 2013)

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