Stanley Spencer, 1891 - 1959

Ein bedeutender englischer Künstler verspricht sich viel von freier Sexualität

und erleidet schlimmen Schiffbruch

In den letzten Jahren erlebt der Ruf des britischen Malers Stanley Spencer, 1891 – 1959, eine „Renaissance". Manche Kunstkritiker halten ihn heute für den größten englischen Maler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; einige Kunstkritiker halten ihn zumindest für EINEN der bedeutendsten Maler Englands in jener Zeit.  

Spencer arbeitete immer „gegenständlich". Wichtige Bild-Themen: sein eigenes Gesicht (das er mehrfach zu verschiedenen Zeiten malte), seine Tätigkeit als Sanitäter im Ersten Weltkrieg; Religiöses (Spencer malt eine Auferstehung der Toten auf dem Friedhof seines Heimatdorfes an der Themse westlich London und einen Jesus, der sein Kreuz durch seine heimische englische Landschaft trägt), Beziehungen zwischen Mann und Frau (zum Beispiel: „Liebesbriefe": Mann und Frau sitzen auf dem gleichen Sofa; aber statt miteinander zu reden, lesen sie jeweils Briefe).

Einige von Spencers „Beziehungsbildern" wirken „erotisch"; manche Kunstkritiker sprechen von Pornographie.

Das berühmteste dieser Beziehungsbilder zeigt Spencer mit einer Künstlerkollegin, mit der er liiert war und die er – nach der Scheidung von seiner ersten Frau, einer ebenfalls ausgezeichneten Malerin - heiratete (Die englische Kunstschriftstellerin Sister Wendy zählt das Bild zu ihren Lieblingsbildern). Spencer zeigt auf diesem Bild sein Gesicht im Profil, seinen unbekleideten Rücken und vor ihm liegend, dem Betrachter zugewandt, eine nackte Frau, seine zweite Ehefrau. Mann wie Frau machen, salopp gesprochen, keinen glücklichen Eindruck. – Eine Hammelkeule auf dem Bild wird von manchen Interpreten als Hinweis dafür genommen, dass es in dieser Beziehung keinen Sex gab. http://www.tate.org.uk/britain/exhibitions/spencer/images/selfandpatricia.jpg

Spencer äußerte sich mehrfach in seinem Leben emphatisch über Sexualität: Er sieht in ihr die Möglichkeit für ein unvergleichlich großes, das Individuum förderndes Erlebnis. Ein Kunsthistoriker reiht Spencer wegen dieser emphatischen Äußerungen ein in eine besondere Gruppe künstlerisch tätiger Menschen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die sich von einer neuen Bewertung sexueller Empfindungen und Handlungen neues Menschheitsglück versprachen. Der bekannteste dieser Rhetoren war David Herbert Lawrence, als einer ihrer ersten Vertreter wird der deutsche Psychoanalytiker Otto Gross angesehen (dessen zeitweilige Freundin Frieda von Richthofen sich später mit Lawrence anfreundete und wegen Lawrence ihre Familie samt Kindern aufgab.).

Ein Kunsthistoriker deutet die Sexualitäts-Begeisterung des Malers Spencer als hervorgegangen aus den erlebten Schrecken des Ersten Weltkriegs.

(Ob Spencer selbst eine solche kausale Verknüpfung äußerte, ist mir nicht bekannt. Eine solche Hoffnung auf die befreiende, erlösende, ins Offene führende Wirkung von liebevoller Sexualität scheint beispielsweise auch auf in Blochs 1923 in zweiter Fassung erschienenem „Geist der Utopie": Ein französischer Gesandte habe den Friedensvertrag von Aachen „auf den Lenden seiner Geliebten" unterschrieben. Blochs optimistisches Credo: Nichts könne völlig fehl gehen, woran eine sinnlich liebende Frau beteiligt war).

Die Hoffnung auf Erlösung durch sinnliche Liebe wird von verschiedenen Interpreten spencerscher Bilder verschieden gewertet: Manche Kunstkritiker sehen in einer solchen Hoffnung nur die Kombinatorik eines hypersexuellen Hirns, andere sehen darin eine legitime Hoffnung, andere höhnen etwa in der folgenden Art: Ach du dummer Spencer, guck doch dein Leben an! Wie sehr misslangen dir deine geschlechtlichen Beziehungen! Wie unbegründet war deine Hoffnung!

Wenn man auf Spencers Leben blickt, fällt es schwer, einem solchen Hohn das  Recht abzusprechen.

Die zentralen Beziehungsereignisse in Spencers Leben.

Spencer heiratet Anfang der 20er Jahre eine Künstlerin, mit der er Jahre zuvor eine bedeutende Londoner Kunstschule besucht hatte. Die beiden bekommen zwei Kinder. Die Ehe scheint glücklich zu sein.

Eine andere Künstlerkollegin macht Spencer Mitte der 30er Jahre schöne Augen oder (so eine andere Deutung): Sie wird von Spencer angebaggert. Spencer wünscht sich eine Menage à trois mit dieser zweiten Frau, Patricia Preece, und seiner bisherigen Frau Hilda. Er schlägt das seiner Frau Hilda vor. Diese will das nicht und reicht die Scheidung ein. Die Eheleute Spencer werden geschieden. - Stanley Spencer kann nun Patricia heiraten. Diese aber verlangt vor der Eheschließung, dass Spencer ihr sein Haus überschreibt (er hatte es mit Einnahmen aus Bilder-Verkäufen erworben).

Spencer entspricht dieser Forderung.

Gleich nach dem offiziellen Heiratsakt tut sich Preece mit ihrer – lebenslangen – lesbischen Freundin zusammen; sie lehnt Sex mit Spencer ab; sie weist ihn sogar aus DEM Haus, das er ihr überschrieben hatte.

Spencer will zu seiner ersten Frau zurück. Die will ihn aber nicht mehr. Spencer schreibt ihr trotzdem viele Liebesbriefe, die er aber nicht alle abschickt; er schreibt solche Briefe sogar noch mehrere Jahre, nachdem die Adressatin 1950 an Unterleibskrebs gestorben war. (http://www.tate.org.uk/britain/exhibitions/spencer/images/loveletters.jpg)

Eines ist sicher: Zumindest die sexuelle Beziehung „Nummer 2" hat sich für Spencer wirklich nicht gelohnt, im Gegenteil. Nicht oft wurde ein Mann von einer Frau so „vorgeführt" wie in diesem Fall. Und wegen der Beziehung zu Frau Nummer II verlor Spencer auch Frau Nummer I.

1996 wurde in London und New York ein Theaterstück mit dem Titel „Stanley" aufgeführt, das Spencers Beziehungs-Leben in einer Reihe Szenen zu vergegenwärtigen versucht.

Ein Kunstgeschichte-Kuriosum: Die englische Ordensschwester und Kunsthistorikerin „Sister Wendy" nennt das eingangs beschriebene Bild „Self Portrait with Patricia Preece" 1937 eines ihrer Lieblingsbilder und deutet es in einem ihrer Bücher ausführlich. Auch sonst scheint dieses Bilder eines der bekanntesten aus der Hand Spencers geworden zu sein.

Auf dem Kontinent wurde Spencer bisher wenig wahrgenommen. Große Ausstellungen, soweit ersichtlich, gab es bisher nur in England, Irland und den USA. Eine Website vom Kontinent über „Künstler und der Erste Weltkrieg" weist unter vielen anderen Bildern auch ein in England bekannt gewordenes Bild aus der Sanitäterzeit Spencers während des Ersten Weltkriegs auf.

Einige Fundorte für Spencer-Gemälde im Internet:

http://www.tate.org.uk/britain/exhibitions/spencer/images/applegatherers.jpg

http://www.artmag.com/museums/a_greab/agblsta/spencer.html

http://www.tate.org.uk/britain/exhibitions/spencer/images/foxes.jpg

http://www.tate.org.uk/britain/exhibitions/spencer/images/contemplation.jpg

http://www.tate.org.uk/britain/exhibitions/spencer/images/loveletters.jpg

http://www.tate.org.uk/britain/exhibitions/spencer/images/1959.jpg

Veit Feger  2006

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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