Rißtissen Rathgeb Ortsgeschichte

 

So kann man im Jahr 2020 die Geschichte eines deutschen Dorfs während des Nationalsozialismus darstellen….

Im Sommer 2020 erschien eine umfangreiche „Ortsgeschichte Rißtissen“ aus der Feder des aus Rißtissen stammenden früheren Studiendirektors Berthold Rathgeb. – Das Dorf Rißtissen ist seit der großen Gemeindereform In den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Teilort der Großen Kreisstadt Ehingen; daher wird diese Heimatgeschichte auch von Grußworten des Ehinger Oberbürgermeisters Alexander Baumann und des Rißtisser Ortsvorstehers Markus Stirmlinger begleitet.

Wir befassen uns hier nur mit dem 27 Seiten umfassenden Kapitel „Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg“ auf den Seiten 168-185.

„Die Folgen“ der „Machtergreifung“ im Frühjahr 1933 werden folgendermaßen geradezu liebevoll dargestellt: „Da konnte es auf einmal passieren, dass einer von braun uniformierten Männern oder auch solchen in Zivil abgeholt und nicht gleich wieder zurückgebracht wurde.“ Solche Behandlung widerfuhr Personen, die „dem Staat schaden wollten“. „Als solche Staatsfeinde galten 1933 vorzugsweise Kommunisten, überhaupt alle Regimekritiker, Unangepasste, die sich nicht in die neue Ordnung einfügten, Querulanten, Arbeitsscheue, Asoziale.“ „Aber auch viele harmlose Mitbürger“ wurden „in Schutzhaft genommen.“  Dieses Vorgehen hatte den Zweck der „Einschüchterung und handfesten Belehrung.“ – Rathgebs  Darstellung klingt  wie eine  Selbstdarstellung der damaligen nationalsozialistischen Machthaber: „Unangepasste, Querulanten, Arbeitsscheue, Asoziale“. Keine Rede davon, dass zu den ersten Inhaftierten (soweit sie nicht Hals über Kopf flüchteten)  Schriftsteller, Journalisten, nicht-konforme Politiker zählten. Ich vermute: für Rathgeb waren das ebenfalls  Querulanten und Asoziale.

Ein im Dort ansässiger „Fett-Reisender“ (das Wort wird nicht erklärt) wünschte von der Gemeinde finanzielle Unterstützung. Das führt dazu, dass dieser Mann “zu Hause abgeholt und zur Umerziehung in ein Lager gesteckt“ wird. „Umerziehung“ wird umstandslos aus der NS-Terminologie übernommen (S. 171f).

Zur saloppen Diktion des Autors Rathgeb passt, dass er staatliche Eingriffe in gemeindliche Belange als solche der „Obrigkeit“ bezeichnet. Ein neuer Bürgermeister, der dem NS-Reich bequem war, erhält laut Autor sein Amt, weil dieser ein „Verwaltungsexperte“ war und besser „dem Führerprinzip entsprach“ (173). Dass eine NSDAP-Mitgliedschaft, zumindest Nähe zur NS-Partei,  bei solchen Personalentscheidungen eine wichtige  Rolle spielte, davon lesen wir nirgendwo etwas.

Mehr Genauigkeit wünscht sich der Verfasser dieser Notiz,   wenn von Rathgeb berichtet wird, die Gemeindeverwaltung sei aufgefordert worden, der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädchen Räume zur Verfügung zu stellen. Die Gemeinde „wurde aufgefordert“ – von WEM, das  erfahren wir nicht. Möglicherweise war es eine Parteiformation – das wär jedenfalls typisch für die NS-Zeit gewesen.

Die Ermordung von Behinderten, heute in der Geschichtswissenschaft oft  als „T4-Aktion“ bezeichnet, wird vom Autor wenigstens zwei Mal  als „Tötungsaktion“ bezeichnet, nicht als MORD, obwohl der Autor sogar erwähnt, dass die Todesursache und der Tötungsort einer  im Rahmen von T4 ermordeten Rißtisserin gegenüber den Angehörigen  falsch und irreführend bezeichnet wurde  („das Standesamt Rißtissen“ erhielt „eine manipulierte Sterbeurkunde mit dem  falschen Sterbeort Hartheim bei Linz“).

Der Autor übernimmt immer wieder typische NS-Begriffe, etwa hier: „Am 22. Juni 1941 befahl der Führer… den Angriff auf sowjetische Truppen“. Richtig wäre gewesen: „den Angriff auf die Sowjetunion“. Durch die Verwendung des Ausdrucks „sowjetische Truppen“ entsteht der Eindruck, als ob dieser Angriff  eine gewissermaßen innermilitärische Aktion gewesen sei. Dabei kamen bei diesem Angriff Millionen sowjetischer ZIVILISTEN  ums Leben.

Dass Hitler nach „Stalingrad“ weiter kämpfte, rechnet der Autor „ideologischer Verbohrtheit“ zu. Man darf behaupten, dass Hitler damals wusste, dass er nur noch so lang leben durfte, solang deutsche Soldaten kämpften,  dass also seine Tage gezählt waren. Es ging ihm bei der Entscheidung über die Fortsetzung des Kampfs gegen die Sowjetunion nicht mehr um Ideologie, sondern nur noch ums pure Länger-Leben.

Der Autor   bedauert, dass Eisenbahnzüge Richtung Osten nicht  für den nötigen Nachschub der Ostfront-Soldaten genützt wurden, sondern dafür, mit diesen Zügen  „Juden mit Weib und Kind in die Vernichtungslager“ zu transportieren. „Anstatt die Güterzüge ausnahmslos für den Nachschub an die Ostfront einzusetzen, transportierte man auf ihnen Juden“ (180). Man fragt sich: Wie konnte hier  Adolf und seine Fäns nur so militärtechnisch falsch entscheiden?! Noch nachträglich gilt: „Hättet ihr Stümper doch Herrn  Rathgeb befragt.“-

Für den Autor waren es  „Juden“, die da verschubt wurden,  keine deutschen Bürger mehr, nur Juden.

Claus von Stauffenbergs Attentat sollte “das deutsche  Volk von dem Diktator befreien“ (182). Wäre es nicht präziser gewesen, zu schreiben: „Das Attentat  sollte eine t°o°t°a°l°e Niederlage verhindern helfen“ ? - eine Niederlage in einem Krieg, an dessen Planung und Durchführung die meisten der beteiligten  Attentäter aus der Wehrmacht beteiligt waren. –

Autor Rathgeb legt in diesem Abschnitt  ein religiöses Bekenntnis ab: „Die Vorsehung indessen wollte es anders.“  - „Vorsehung“ war ein Lieblingswort des „Führers“.

Ganz beiläufig erwähnt der Autor,  dass es während des Kriegs in Rißtissen  „bis zu 30 Fremdarbeiter“ gab,  neben 16 Franzosen vor allem zwischen 50 und 60 „Ostarbeiter“, … weil, so der Autor in Dritt-Reich-Stil,  „der Bauer oder sein Knecht an der Front stand“.  Der zutreffende  Begriff „Zwangsarbeiter“ taucht bei Rathgeb nicht auf.

Wirklich erstaunlich ist die Rathgebsche Darstellung der Hinrichtung eines jungen Zwangsarbeiters in der Nähe von Rißtissen. „Wenn sich nun einer dieser Ostarbeiter etwas zu Schulden kommen ließ, sich aufsässig verhielt oder sich deutschen Frauen gegenüber Freiheiten herausnahm, wurde er mit drakonischen Strafen belegt.“ Dem Zusammenhang  nach bezieht sich der Autor hier auf die Hinrichtung eines „in Untersulmetingen beschäftigten (!) Ukrainers von der Staatspolizei an einem fahrbaren Galgen“ (183). (Näheres dazu: „Der Fall Dimitrij Siwidow“ auf: http://www.ggg-laupheim.de/Index.htm

Rathgeb belässt den Ukrainer namenlos, obwohl der Name dieses jungen Mannes, der sich nicht „Freiheiten gegenüber einer deutschen Frau herausgenommen“ hatte, sondern angeblich den NS-Staat beleidigt hatte, schon lange zumindest im Internet  nachlesbar ist.

In der Rathgebschen Lesart muss der junge Mann sich mehrfach übel verhalten haben, so dass das angebliche Hinunterstoßen des Untersulmetinger Bürgermeisters von einem Brücklein in die Riß „nur der letzte Tropfen“ war, „der das Fass zum Überlaufen“ brachte. „Wie dem auch sei, die Strafe für den Übeltäter kam – siehe oben  - schnell und erbarmungslos. Die übrigen Ostarbeiter, die in Untersulmetingen beschäftigt“  (Rathgebs Originalton“) „waren, mussten bei der Hinrichtung zusehen.“…

„Die Staatspolizei inszenierte solche halböffentlichen Exekutionen zur Abschreckung bewusst für ein ausgesuchtes Publikum.“ – „Ausgesucht“  ? -  dieses Publikum lässt sich  genau bezeichnen; es waren die anderen Zwangsarbeiter der Umgebung, die extra zum Hinrichtungsort gekarrt wurden, um sie mit einer solchen „Darbietung“ einzuschüchtern.  Bio-Deutsche waren meist nicht zu gelassen – vermutlich, weil die Henker wussten, dass so viel ungeordnetes Verfahren, so viel brutale -Willkür den Volksgenossen besser nicht zugemutet wird. Die damaligen deutschen Zeitungen veröffentlichten ja auch nie Fotos aus den Vernichtungslagern.

Erstaunlich an dieser Rißtisser Ortsgeschichte ist, dass in ihr (wenn der Kritiker richtig gelesen hat)  Menschen jüdischen Glaubens  aus der nahen Stadt Laupheim kaum oder gar nicht vorkommen – dabei waren die Kontakte zwischen Laupheimer Viehhändlern und Rißtisser Bauern vermutlich beinah  alltäglich. Soweit mir erkennbar, kommt e°i°n  Laupheimer jüdischen Glaubens nur  an e°i°n°e°r Stelle vor, im Kapitel „Aus dem Schultheißen-Amtsprotokoll“:  Da wird aus dem Jahr 1847 berichtet „Moses Einstein beschwert sich“, dass ein Rißtisser Bürger ihn betrogen habe. Der „Schultheißenamtsverweser“ stellt dann ein Einvernehmen zwischen den beiden Streit-Parteien her. (Dass es sich hier um einen Viehhändler aus Laupheim jüdischen Glaubens handelt, geht aus dem zitierten Text nicht hervor).               

Veit Feger   Veit.Feger@t-online.de