Reisen...

Unter dieser Überschrift stehen Notizen, die ich über Ausflüge (meist gemeinsam mit meiner Frau Uli) verfasse. Ich erlebe immer wieder: Erst vor Ort, erst beim Besichtigen, kommen mir FRAGEN. Beantworten kann ich sie meist erst zuhause. Zu meinen Ausflügen gehört daher die häusliche „Nacharbeit“, meist auch hier mittels Internet.

Aufzählung

5. September 2005: Fahrt Richtung oberes Donautal – von Hornstein, von Stauffenberg-Rißtissen, Stetten am Kalten Markt -  Ausblick ins ins obere Donautal

Aufzählung

Freitag, 16. September: Kleine Tour Richtung Obere Donau  - literarisch angereichert

Aufzählung

Mitte September 2005:  Das Gestühl in der Memminger Hauptkirche – Das Memminger Stadtmuseum – Jüdisches in Memmingen – Ungewöhnliche Frauen aus Memmingen

Aufzählung

Ausflüge: Aalen, Gmünd, Ruine Rechberg, Ostrach, Überlingen

 

 

5. September 2005: Fahrt Richtung oberes Donautal – von Hornstein, von Stauffenberg-Rißtissen, Stetten am Kalten Markt -  Ausblick ins ins obere Donautal

Es ist ein so schöner Spätsommertag. Ich schlage vor: Richtung Sigmaringen und weiter westlich!

Bei Bingen nahe Sigmaringen sehen wir ein Schild „Ruine Hornstein“. – Dieser Adelsname ist bei uns herum recht bekannt. Wir fahren mal in die vorgeschlagene Richtung.

Neben der idyllisch hier fließenden Lauchert (ein bisschen mehr Wasser als die Schmiech bei Ehingen) ist ein Parkplatz, mit einer lustigen Steinplatte. „Zur Ruine 350 kleine Schritte, 250 große Schritte“ – die „kleinen“ Schritte werden durch (in den Stein gemeißelte) Pfoten-Abdrücke versinnbildlicht.

Also hoch den Berg!

Wir kommen zu einer erstaunlich großen Burgruine, die (so ungefähr) zwischen 1988 und 1997 vor dem totalen Verfall gerettet wurde, durch ein Zusammenwirken von örtlichen Vereinen, Kommunen, Staat.  - Erst am Tag zuvor war hier eine Alte-Ritter-Veranstaltung, einer dieser Nostalgie-Termine, wie sie in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland beliebt geworden sind und oft auch in kleinen Gemeinden stattfinden (kürzlich erst in Munderkingen, im Juni in Schelklingen; wir kennenderlei auch aus Zwiefaltendorf), am kommenden Wochenende im bayerisch-schwäbischen Neuburg an der Kammel bei Günzburg, am Vortag auf dieser Burg Hornstein. – Die Idealisten haben für den Mittelalter-Schau-Tag sogar einen Raum zur Lederbearbeitungswerkstatt hergerichtet, einen als Schmiede, in der Lederwerkstatt waren istorische Schuh-Modelle zu besichtigen.

Von der einstigen Burg, die erstmals im 13. Jh genannt wurde, sind noch erhalten oder wieder hergerichtet, die Burgkapelle von 1724, mit barockem Deckenstuck, sonst ist dieser Raum sehr bescheiden ausgestattet, und ein Wohnraum darüber!

Man hat von einer Zinne einen schönen Ausblick auf das Laucherttal. Aber ansonsten liegt die Burg jott-we-de, janz weit draußen. Man kann nur den Weg zurückfahren, den man von Südosten hergekommen ist, aber nicht in nördliche Richtung weiter. Wie wir feststellen, befindet sich dort Militärisch genutztes (oder nicht mehr genutztes, straßenmäßig perfekt erschlos­senes), verbotenes  Gelände der Sigmaringer Bundeswehreinheiten.  –

Ich schau im Internet unter „von Hornstein“ nach und finde einiges. Das Geschlecht der Hornsteine ist weit verbreitet, brachte es aber meistenteils nicht über den Freiherrnstand hinaus. Es gibt von Hornsteine sowohl auf Sylt  wie in der Schweiz. Die zu Ehingen am nächsten lebenden Hornsteine wohnen wohl im Schloss Grüningen hinter Riedlingen. Der bedeutendste jüngere Hornstein war meines Empfindens ein Forstfachmann, der vor fünfzig Jahren eines der bedeutendsten waldgeschichtlichen Bücher deutscher Sprache veröffentlichte (mein Vater hat es als Besprechungsexemplar damals zugeschickt erhalten).

Dieser Wald-und-Forst-Forscher von Hornstein wohnte in Orsenhausen hinter Laupheim (der dortige Fanfarenzug hat sich nach dem Ortsadel benannt). Ein anderer von Hornstein schrieb im Kösel-Verlag München 1950 einen Ehe- und Sexratgeber „Gesundes Geschlechtsleben“ (für einen Adeligen erstaunlicher als ein Buch über Forst-Geschichte – smiley).

Mir scheint: Einige Hornsteine zeichnen sich dadurch aus, dass sie kinderreich waren und dadurch, dass sie sich verschuldeten, des öfteren ihre Schlösser verkaufen mussten, aber manchmal auch den Rückkauf schafften. 1510 verkaufte ein Wilhelm von Hornstein seine Burg bei Bingen an einen kaiserlichen Sekretär Johann Renner (möglicherweise aus Allmendingen bei Ehingen), aufgeführt werden „Holzlege, Mistschütte und Hofraite“.. – Einer der Hornsteine besaß im 18. Jahrhundert die „Eiserne Hand“ des Götz von Berlichingen, also die berühmteste Hand-Prothese der deutschen Geschichte. – Einige Zeit waren von Hornsteine Ritter in Kanzach, wohnten in einer Wasserburg am örtlichen Bach und wurden daher „Bachritter“ geheißen.

Ende des 18. Jahrhunderts wird der Familiensitz an die Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen verkauft, die in den abseits gelegenen Gebäuden zeitweilig eine Haft- und Irrenanstalt einrichteten – gute Kombination! – smiley.

Eine Hornsteinerin aus der Linie Hornstein-Göffingen (am Fuß des Bussen) brachte es in der zweiten Hälfte des 18. Jh. zur Äbtissin des adeligen Damenstifts Säckingen am Rhein. Sie war über fünfzig Jahre lang die Vorgesetzte von 16 Stiftsdamen. Als das Kloster enteignet war und die Äbtissin wenig Jahre danach starb, wurde ihr gesamter Hausrat ebenfalls von den badischen Landesherren an sich genommen (mit welchem Recht???): Es waren 21 Zentner Hausrat und Möbel, mehrere Kutschen, darunter die sogenannte Wurst, eine offene Kutsche, in der alle sechzehn Stiftsdamen Platz nehmen konnten.

Ein anderer Hornstein brachte es an der Wende zum 18. Jh. zum Landkomtur der Deutschordens-Ballei Franken.

Die Geschichte der Hornsteine bringt mich zur Geschichte der Schenken von Stauffenberg, die unter anderem Besitz in Rißtissen bei Ehingen haben und deren heute bekanntester Angehöriger Hitler-Attentäter war. Diese „Schenken“ waren im Mittelalter Schenken der Grafen von Hohenzollern.

Warum die Stauffenberg auch nach Bayern kamen

Jetzt, durch einen im Internet aufgetanen Text kann ich endlich verstehen, was dieses schwäbische Adelsgeschlecht mit einem Sitz in Risstissen  in BAYERN tat (der Senior, in einem der letzten Jahre verstorben,  lebte vorwiegend in München; ein Vorfahr von ihm war um 1900 herum Vorsitzender des Bayerischen Landtags).  Die Beziehung zu Bayern entstand wohl so: Ein Zweig der Familie erwarb Besitz in Amerdingen nahe Nördlingen (wir sahen zufällig sogar mal dieses stattliche Schloss, heute ist darin die Bayerische Landesjagdschule). Über jenes Amerdingen wurde der Zweig, dem auch Schloss Rißtissen gehört, Bayern-orientiert.

Stetten fori frigidi

Schon lange wollten wir mal Stetten am Kalten Markt sehen, früher ein berühmter Bundeswehr-Stationierungsort.

Heute scheint in Stetten AKM nicht viel los zu sein. Eine beispielhaft saubere, gepflegte, aber auch relativ menschenarme, weitläufig gebaute Gemeinde.

Wir schauen mal in die Kirche rein. Bemerkenswert: In einer Seitenkapelle ist noch der sehr einfache gotische Altar der Kirche erhalten, unter anderem mit einer kleinen Statue des Heiligen Dionysius, der seinen Kopf vor der Brust trägt, und dem Heiligen Blasius, der ja auch in Ehingen zu tun hat; ihm ist ein Hund mit Fisch im Maul beigegeben. – Der Hauptaltar ist barock, die Kirche wurde wohl vor hundert Jahren mächtig erweitert. Die Größe liegt heut sicher weit jenseits des Bedarfs.  – Auf einem Grabstein lesen wir einen lateinischen Text, der aufzeigt, dass dieser komische Namen „am kalten Markt“ schon recht alt ist: da steht tatsächlich „Stetten fori frigidi“

Blick ins Donautal

Am Ortsrand von Stetten AKM sehen wir ein Schild „Schaufelsen“. Wir finden ihn auch, diesen Felsen, zwei, drei  Kilometer außerhalb des Orts, Richtung Süden nachdem wir eigentlich schon fast aufgeben wollten - aber ein Klärwärter, den wir zufällig am Tor seines Geländes trafen und den wir fragten, machte uns Mut  - smiley.

Nahe einem sehr schönen Übernachtungs- und Freizeitheim der Naturfreunde Tuttlingen gelangen wir über einen dreihundert-Meter-Fußmarsch zu einem Felsen über dem Donautal, von dem aus man einen wunderschönen weiten Blick ins obere Donautal, vielleicht zehn Kilometer weit oder mehr, hat, Richtung Werenwag und Wildenstein, zum Teil auch auf hohe Felswände. - Wir müssen hier unbedingt nochmals herkommen, wenn die Sicht besser ist als  an diesem zwar wunderschönen, aber dunstigen Tag. 

Auf dem Rückweg zum Auto begegen uns zwei junge Leute mit Rucksäcken. Ich denke ganz romantisch: „Tapfere Wanderer!“ und frage: „Wohin des Wegs?“  - O nichts mit Wandern. Sie wollen nur klettern, in den Rucksäcken ist Klettergerät, Seile etc.

 

Freitag, 16. September, Kleine Tour Richtung Obere Donau  - literarisch angereichert

Wir unternehmen mit unserem ukrainischen Freund Jure eine Fahrt Richtung Obere Donau.

Könnte ich nicht für unseren Gast ein bisschen Literaturgeschichte in diese 190 Kilometer lange Autofahrt reinzwängen?

Das geht in der Mehrzahl der Orte ohne zu viel Gewalt.

So kriegt unsere biedere schwäbische Heimat ein bisschen literarischen Glanz (es wird auch Talmi dabei sein – smiley).

Wir kommen an Obermarchtal vorbei. Im dortigen Kloster lebte im 18. Jahrhundert der  Prämonstratenser Sebastian Sailer, einer der ersten und einer der bedeutendsten schwäbischen Mundartdichter; dieser Schriftsteller erlebte in den letzten Jahren eine „Renaissance“ (wenn man es so pompig ausdrücken will).

Der studierte Katholik lässt gern Gottvater schwäbisch schwätzen. (Das hat ihm sogar die Bewunderung des eher ungläubigen Goethe eingebracht).

Sailer hat zahlreiche Bücher verfasst. Vor einigen Jahren wurde unter anderem Sailers Geschichte des Klosters Marchtal reprintet, verfasst zur 700-Jahr-Feier des Klosters anno 1770. Sailer rechtfertigt darin beiläufig die Verbrennung von Hexen im Klosterstaat Marchtal nur wenige Jahre zuvor (Man hat die Empfindung, er rechtfertigt das, weil er ungern einen Makel auf der Geschichte seines Klosters sieht).

Derzeit (im Herbst 2005) finden in Obermarchtal wieder die Sebastian-Sailer-Tage statt. Dabei wird unter auch ein von Sailer verfasstes „Oratorium“ gesanglich und instrumental dargeboten; die Musik dazu komponierte der Ehinger Musiklehrer Gentner. (Natürlich werden auch Mundart-Texte von Sailer zu hören sein - smiley).

Wir fahren vorbei an Pflummern; hier war der Lyriker Mörike einige Zeit Vikar.

Wilflingen: Hier lebte der deutsche Schriftsteller Ernst Jünger fünfzig Jahre lang, die zweite Hälfte seines Lebens – und fast die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Ein Angehöriger der Familie von Stauffenberg hatte ihm dort in den schlechten Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Wohnung zur Verfügung gestellt. – Jünger lebte sehr gern in diesem bäuerlichen Dorf; er aß gern schwäbische Gerichte im Dorfgasthaus und schwätzte gern mit den Leuten im Dorf. Das scheint ihn sogar von seinem nationalistischen und militaristischen Ross runtergebracht zu haben.

Auf dem dörflichen Friedhof ist Ernst Jünger und auch mindestens ein Sohn von ihm bestattet, in Gräbern, die genau so aussehen wie die anderen, nicht pompöser.

In Wilflingen erhielt Jünger unter anderem zu seinem 100. (?) Geburtstag den gleichzeitigen Besuch vom damaligen Bundeskanzler Kohl und vom damaligen französischen Präsidenten Mitterand (Zur Erläuterung: Eine ganze Reihe literarisch interessierter Franzosen hat an Jünger einen Narren gefressen; das rührt aus der Zeit, als Jünger während der deutschen Besatzung Frankreichs in Paris eine Art Kultur-Offizier war).

Mit Ernst Jünger verbindet sich für mich die Erinnerung an die Bibliothek im Philosophischen Institut der Uni Frankfurt. Da fiel mir beim Schmökern 1965, also vor vierzig Jahren, mir, der bis dahin von Jünger nichts Originales kannte, sein „Arbeiter“  (1932) in die Hand. Ich war geschockt. Und – wäre die Bibliothek noch am selben Platz wie damals – ich fände sofort den Platz, wo das Buch damals stand.

Uli fällt zu Ernst Jünger wichtiges ein: Jünger war ein bedeutender Käferforscher („Entomologe“ heißt das schwierige Wort; andere Entomologen benannten verehrungsvoll mindestens einen, wenn nicht mehrere  in den letzten Jahrzehnten entdeckte Käferarten nach Jünger) und Jünger hatte seinen  Geburtstag wie ich am 29. März !

Sigmaringen. – Hier lebte in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs der französische Schriftsteller-Arzt F. Céline, den einige Franzosen für einen der bedeutendsten Romanciers ihrer Sprache im 20. Jahrhundert halten.

Céline war mit der Vichy-Regierung nach Sigmaringen umquartiert worden, als die US-Soldaten ins besetzte Frankreich einmarschierten und der Fall drohte (der dann auch eintrat), dass sich die siegreiche Resistance an den Kollaborateuren rächen würden.

Céline versuchte, von Sigmaringen aus weiterzufliehen, es gelang ihm aber nicht. Er musste in den Jahren nach dem Krieg unter Strafe und Ausgrenzung wegen seiner deutschen Freundschaften leiden. Er starb, wenn ich mich recht erinnere, 1966.

Durchs Obere Donautal mit seinen vielen schönen Kalkfelsen links und  rechts der schmalen Donau.

Wir sehen die Burg Werenwag vor uns liegen, hoch auf einem Felsen überm Tal. Hier lebte einst ein Minnesänger. Zumindest nannte er sich nach der Burg. Sechs Lieder Hugos von Werenwag sind in der Großen Heidelberger Liederhandschrift aufgeführt. (Um 1500 werden die von Werenwag Reutlinger Stadtbürger).

Wir fahren auf die Hochfläche südlich des Donautals – nach Kreenheinstetten – eigentlich nur, weil wir dort ein gutes Gasthaus kennen und zu Mittag essen wollen. Wir sind dort im Sommer 2004 mit hundert Zeitungszustellerinnen und -zustellern eingekehrt. Leider ist an diesem Freitag 2005 „Ruhetag“.

Das Gasthaus Traube, in dem wir eigentlich essen wollten, ist die Heimat des Kanzelredners und Schriftstellers Abraham a Santa Clara (eigentlich: Megerle), dem (angeblichen) Vorbild des Feldpredigers in Schillers „Wallenstein“.

Santa Clara war ein höchst erfolgreicher Schriftsteller und zudem ein übler Antisemit, so, wie noch andere Genies aus dem „Schwäbischen Geniewinkel“, der Philosoph Martin Heidegger und der Freiburger Erzbischof Gröber (30er Jahre).

Zu den produktiven Köpfen aus dieser armen Gegend des westlichen Oberschwaben gehört auch der Komponist Konradin Kreutzer (Oper „Das Nachtlager von Granada“).

Tja, dann also rüber pflichtschuldigst zur Burg Wildenstein. Die gehörte einige Jahrhunderte lang der Adelsfamilie von Zimmern. Deren heute noch bekanntestes Mitglied ist ein Graf von Zimmern, der die nach ihm benannte Zimmernsche Chronik verfasste, ein für die deutsche Kulturgeschichte um 1550 interessantes Erinnerungs- und Anekdotenbuch.

Auf der Rückfahrt kurzer Ausstieg in Zwiefaltendorf, Blick in der örtlichen Pfarrkirche auf die zahlreichen Grabmäler von Adeligen der hier beheimateten Adelsfamilie Späth. Auch hier gibt’s noch ein bisschen Literaturgeschichte zu memorieren. Einer der Späthe war anfang des 16. Jahrhunderts hoher Beamter am württembergischen Herzogshof. Er war befreundet mit der Herzogin Sabina geborene Wittelsbach. Die war unglücklich verheiratet mit Herzog Ulrich von Württemberg. Späth half der Sabina, in ihre bayerische Heimat zu fliehen. Mit beteiligt war der mit Späth befreundete Ulrich von Hutten, einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller seiner Zeit.

 

 

Mitte September 2005: Das Gestühl in der Memminger Hauptkirche – Das Memminger Stadtmuseum – Jüdisches in Memmingen – Ungewöhnliche Frauen aus Memmingen

Wie besuchen Memmingen. Ausnahmsweise können wir die evangelische Hauptkirche der Stadt betreten. Beeindruckend: das Gestühl, mit seinen vielen geschnitzten Figuren, die Menschen aus Memmingen vom Beginn des 16. Jahrhunderts darstellen. Zu sehen sind  nicht nur die Promi‘s des Stadtregiments und der Kirchenleitung, sondern auch der Mesner der Kirche, die Ehefrauen von städtischen Promi‘s und die gerade verstorbene Ehefrau eines Promi‘. – Ich bin bewegt. Ich finde: dieses Gestühl ist ein Ausdruck erstaunlichen bürgerlichen Selbstbewusstseins. – Vermutung: Die religiösen Auseinander­setzun­gen in den Jahrzehnten nach der Gestühl-Fertigstellung haben dieses (sympathisch) stolze Bürgertum eher geschwächt als gestärkt. Gibt es später noch einmal solch selbstbewusste Bürger-Selbstdarstellungen?

Wir sehen wenige Tage darauf – oder war es schon am nächsten Tag? – das Gestühl in der Nördlinger Pfarrkirche: auch hier einige Halbfiguren, aber doch viel weniger, kein Vergleich zu dem Gestühl in Memmingen.

(Ich besitze eine Veröffentlichung über die Stadtkirche „St. Martin“, aus den 80er Jahren. Derzeit, im Herbst 2005, gibt es nichts Käufliches über die Kirche und das Gestühl)

Erstaunlich ist für mich, dass das mächtige und bewundernswerte Standardwerk von Raimund Eirich über das Memminger Patriziat 1347 – 1551, Konrad-Verlag Weißenhorn, 1971, fast vierhundert Seiten lang, nur ein einziges Motiv aus dem Kirchengestühl verwendet, obwohl der Band sonst zahlreiche Fotos enthält: ein Foto auf dem Buchumschlag, innen kein zweites Bild dieses doch unter Aspekt der Selbstrepräsentation des höheren Memminger Bürgertums so bedeutenden Kunstwerks.

In einer für ihre Raumwirkung bekannten früheren Kirche in der Memminger Altstadt sehen wir eine Ausstellung mit Fotos von Menschen, aufgenommen  kurz vor ihrem Tod und danach. Diese Menschen wurden betreut in Hospizen in großen Städten Norddeutschlands. Der SPIEGEL hat diese Fotos zwei oder drei Jahre zuvor erstmals veröffentlicht. Die Fotos dieser bald sterbenden und dann toten Menschen liegen jeweils nur wenige Wochen auseinander.

Die örtliche Ausstellung wird von der örtlichen Hospiz-Gruppe betreut. Zwei Frauen, sehr freundlich und auskunftbereit, sitzen an der Kasse.

  

Besuch im Stadtmuseum, einem Gebäude des 18. Jahrhunderts, das ich schon seit vielen Jahren besuchen will. Aber das eine Mal war das Gebäude nicht geöffnet, das andere Mal war ich zu groggy. Jetzt endlich klappts.

Das Stadtmuseum ist hervorragend aufbereitet. Vor allem begeistern mich diese hübschen Porträts von Bürgern aus der Zeit 1750 – 1850. Die (nicht großstädtischen) Portraits jener Zeit stammen von sogenannten Kleinmeistern. Sie werden nicht ausgestellt in „großen“ Museen, man MUSS in solche kleineren, regionalen Museen gehen, um sie zu finden und zu sehen. Ich kenne solche Portraits unter anderm aus den Stadtmuseen von Biberach und Kempten.

Ein Memminger, Christoph Rheineck, hatte mit Lyon zu tun, mitte des 18. Jh. Er komponierte dort als 26jähriger eine Oper, konnte sie mit Erfolg dort aufführen, kehrte bald darauf nach Memmingen zurück, wurde ein geachteter Gastwirt eines feudalen Gasthofs, komponierte weiterhin viele Lieder, auch Symphonien etc., wurde Leiter des reichsstädtischen Musikwesens - ein leider heute weitgehend vergessener „Kleinmeister“.

Rheineck war befreunde mit dem schwäbischen Journalisten und Regierungskritiker C. Daniel Schubart; Schubart leitete die Aufführung einer Kantate, die Rheineck zu seiner eigenen Hochzeit komponiert hatte. (Kuriosum: Rheineck brach seinen Frankreich-Aufenthalt ab, weil sein Hauptförderer, der französische Minister Turgot, seinen Posten verlor).

Beachtlich im Memminger Museum auch: Arbeiten des von hier stammenden, vor allem in Augsburg lebenden Barockmalers Johannes Heiß (er malte neben „adeligen“ Bildern nach Themen der griechischen Mythologie auch hübsche, überraschende, mir für die damalige Zeit als neuartig erscheinende Genre-Szenen). Bei Googeln stoße ich darauf, dass Heiß auch das Hochaltarbild der Klosterkirche Obermarchtal gemalt hat (1695), eine seiner späten Arbeiten.

Das Museum bringt auch einen Hinweis auf den aus Memmingen stammenden Münchner Kunstprofessor Hunold, der auch literarisch hervortrat und am ehesten bekannt wurde als Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“. Ihm gilt eine Sonderausstellung im sogenannten Paris-Haus der Stadt.

Im Stadtmuseum ist auch ein massiver Folterstuhl aus dunklem Eichenholz zu sehen –schrecklicher Anblick mitten in einem sonst schönen Ausstellungsraum. – Ich lese zuhause nach, was im 18. Jahrhundert  der italienische Aufklärer Beccaria   über „Verbrechen und Strafen“ schrieb. – Beccaria war zu seiner Zeit nicht anstandslos bewundert, so gab es Kritik von seinem Zeitgenossen Kant u.a. – Evans schreibt in seinem vor einigen Jahren erschienenen tausendseitigen Buch über die Geschichte der Todesstrafe in Deutschland ein eigenes Kapitel über den Todesstrafenkritiker Beccaria. – Beccaria hatte ein ungewöhnliches Leben, jedenfalls zu Beginn: Er liebte eine Frau, die sein Vater nicht als Schwiegertochter akzeptieren wollte. Der Sohn wurde vom Vater aus dem Haus geworfen. Aber der offizielle österreichische Regierungsrepräsentant, an den sich Beccaria wandte (weil er unbedingt der liebende Sohn seines Vaters bleiben wollte, vermutlich auch dessen Erbe), vermittelte zwischen Vater und Sohn mit Erfolg. Von daher mag auch jene Bereitschaft Beccarias zur Kritik an überkommenen Normen herrühren.

Sehr beachtlich die Stadtmuseums-Räume zur Erinnerung an die Memminger Juden. Zwar, vom jüdischen Mittelalter ist nichts zu sehen (dabei gab es doch sicher auch Juden in der Stadt, solche, die wegen der Verfolgungen in die umliegenden „Judendörfer“ flüchteten), aber die neuere Zeit ist wichtiger. Ehrenwert: alle einstigen Memminger Juden, denen das Leben genommen oder die vertrieben wurden, sind – soweit irgend möglich – mit Angaben zur Person, ja, mit Fotos, aufgelistet.  – Mehr als drei vier Jahre alt ist diese Abteilung nicht. Das zeigt (was man so oft bemerken muss), wie schwer es den Deutschen fiel, sich mit dieser unangenehmen Seite ihrer Geschichte zu befassen. Mehr als halbes Jahrhundert Zeit musste ins Land gehen. Das gilt ja auch für den Gedenkstein für die örtliche Synagoge.

Wichtig: örtliche Juden waren auch erfolgreich tätig in einem so regional typischen Gewerbe wie der Milchverarbeitung und Käseherstellung! Das hatte ich bisher immer für eine Arier-Domäne gehalten.

Es gab bereits Anfang der 20er Jahre antisemitische Krawalle in der Stadt. Davon liest man sonst auch nichts. Den Memminger Juden lag AUCH nichts dran, dass diese Demütigungen bekannt werden, sie schämten sich.

Weit älter und weit umfangreicher als die jüdische Museumsabteilung ist die Abteilung für Heimatvertriebene aus dem Grenzgebiet Tschechien / Schlesien, am Altvater, einem hohen Berg des böhmischen Randgebirges (fast 1500 Meter).  – Heimatvertriebenen von dort haben unwahrscheinlich viel aussagekräftige Gegenstände zusammengetragen und dem Museum zur Verfügung gestellt. Ich vermute, es ist eines der besten Heimatvertriebenenmuseen in Deutschland, entstanden wohl schon in den 50er/60er Jahren. Herausgehoben werden die Menschen, die vom Dritten Reich verfolgt wurden; es gab sie. Der österreichische „Bauernbefreier“ Kudlich, der nach 1848 in die USA flüchtete, stammte aus dieser Gegend und und wird in diesem Museum gewürdigt.

Drei Broschüren mit Bezug zu Memmingen

Eine Kommunistin, die ihre Zeit im Gulag verschwieg

An der Kasse erwerbe ich drei Broschüren, eine über die Judengemeinde der Zeit 1870 – 1940, eine über die Bauernkriegs-Artikel, die in Memmingen formuliert wurden („erste Menschenrechtserklärung der Geschichte“ - stimmt das wirklich?) und dann ein Bändchen „Frauen zwischen Aufbruch und Anpassung“-Eine Memmingerin, Roberta Gropper, wurde in der Weimarer Republik als KPD-Mitglied in den Reichstag gewählt, sie war in Ulm aufgewachsen. Trotz Verfolgung überlebte sie das Dritte Reich  in Frankreich und mit knapper Not in der Sowjetunion, war aber dort mehrere Jahre in einem Gulag. 1947 kehrte sie nach Deutschland zurück, in die DDR, und war von 1950 bis 81 Mitglied der DDR-Volkskammer, „Vorsitzende des Demokratischen Frauenbundes, Direktorin der Sozialversicherung Berlin und im Vorstand des DDR-Gewerkschaftsbundes“. Sie erhielt hohe DDR-Auszeichnungen, aber die Lager-Zeit in der SU verschwieg sie, diese Jahre wurden auch nicht  in ihren „offiziellen“ Biographien erwähnt. Ihre Tochter, 1919 geboren (die Mutter war damals 22 Jahre) wuchs bei der Oma auf, zog 1948 zu ihrer Mutter in die DDR. Roberta Grupper starb 1993, im Alter von immerhin 96 Jahren.

Im Jahr 2005 soll noch eine Veröffentlichung über Gropper erscheinen: „Exil als verdrängte und tabuisierte doppelte Verfolgung – Roberta Gropper“, in: Gewerkschafterinnen im Widerstand, hrsg. von Sigrid Koch-Baumgarten/Siegfried Mielke/Christel Wickert, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005 (i.B.). 

(Gropper ist ein urschwäbischer Name und bedeutet bei uns üblicherweise ein Messer, mit dem man Frösche fängt).

Bei der Suche nach weiteren Angaben über Gropper stoße ich auf Zenzl Mühsam, die Frau des Anarchisten Mühsam. Sie wurde angeblich ein Opfer einer Denunziation Groppers.  – Dabei ähneln sich die Schicksale Mühsams und Groppers: Beide wurden in der Sowjetunion verfolgt, nachdem sie zuvor von Adolf und seinen Freunden verfolgt worden waren.

 

Das fällt auf: Die meisten der in der Broschüre vorgestellten interessanten Memmingerinen wurden sehr alt. Das war wohl auch eine Chance, dass sie trotz einer männerdominierten Umgebung eine gewisse, begrenzte Berühmtheit erlangten.

Noch weitere interessante Funde für mich in diesem Buch: Hulda Hofmiller-Eggart, 1890 – 1981, Ehefrau des mir bekannten Schriftstellers Hofmiller. Sie stellte ihre eigenen literarischen Ambitionen hinter denen ihres Mannes zurück. Er förderte sie wohl nicht sonderlich. Von ihr liest man in Hofmiller-Biographien vermutlich wenig oder nichts.

Und noch ein Fund: eine Biographie der lettisch-deutschen Schriftstellerin Zenta Maurina. Während meiner Studienzeit in Tübingen und München (1963-64) sah ich mehrfach Plakate, des Inhalts, dass sie in Uni-Städten Vorträge hielt. Ich fragte mich immer: Was ist das für ein Mensch, mit diesem seltsamen Namen? Was für eine Frau? Schließlich war sie eine der ganz wenigen Frauen, die damals, Mitte der 60er Jahre (sie war auch etwa so alt) solche Wandervorträge in Deutschland hielt. Jetzt weiß ich endlich mehr. Mit der Stadt Memmingen kam Maurina in Kontakt, weil ein dortiger Verleger zwanzig Bücher von ihr rausbrachte.

Auch eine der wichtigsten Erforscherinnen der Memminger Malerfamilie Strigel stammt von hier. An der Uni Tübingen hatte sie es schwer, insbesondere im Dritten Reich. Sie trat der Partei bei und konnte dann ihre Assistentenstelle behalten, mehr war aber anscheinend auch nicht drin.

Ausflüge: Aalen, Gmünd, Ruine Rechberg, Ostrach, Überlingen

Aalen ist eine unübersichtliche Stadt, jedenfalls für einen Autofahrer, der von der Autobahn herkommt und zum Limes-Museum will.

Eine Friedhofskapelle mit römischen Quadern

Vor dem Museum ein großer Friedhof, dessen Kapelle im Fundamentbereich erkennbar aus römerzeitlichen Quadern besteht (ich erfahre: von einem nahen Reiterstaffel-Lager).

An der nördlichen Außenwand sind eigenartige Grabsteine in die Mauer eingelassen: Jeweils über dem Namensfeld ein aus dem Stein herausreliefierter Engelskopf, der sich über den Grabstein zu beugen scheint.

Der Friedhof ist weiträumig, wie ein Park. Ich sehe interessante, schöne Grabsteine, unter anderem einer für einen Finanzrat der kaiserlichen Kolonialverwaltung in Ostafrika, der aus Aalen stammte.

Das nahe Limes-Museum ist eine Dokumentation des Lebens in der römischen Provinz, hell, großräumig, übersichtlich. Bedeutende Kunstwerke sind kaum zu sehen. Wichtigster Bezug zum Raum Ehingen: die Falschmünzerwerkstatt Rißtissen. –

Beeindruckend die Nachbildung eines soldatischen Schau-Reiters; diese trugen damals ganz kuriose Art Drachen, mit Luftschlange dahinter. Ob diese militärischen Zeichen ein chinesisches Vorbild hatten?

Ein ungewöhnlicher Mitarbeiter des aus Ehingen stammenden Pfarrers Josef Probst

Eine Ausstellungseinheit zur Geschichte der Römer-Forschung im deutschen Südwesten wird gerade abgebaut und anderswohin verfrachtet .

Ich mache eine Entdeckung: Einer der ersten Männer in Oberschwaben, die nach römischen Funden systematisch gruben und der unter anderem ein römisches Bad bei Biberach ausgrub, war ein damaliger Kaplan Miller; er war zu dieser Zeit (um 1870) zehn Jahre lang Kaplan bei dem aus Ehingen stammenden Pfarrer Josef Probst in Unteressendorf. Miller ist auch einer der bedeutendsten deutschen Kartengeschichts-Forscher und war auf zahlreichen weiteren Gebieten forschend tätig, naturwissenschaftlichen wie historischen. Er war ein Bauernbub aus dem Allgäu, lebte später als Gymnasiallehrer und Pfarrer in Stuttgart, einer der ersten wichtigen Katholiken in der damals, um die Jahrhundertwende, noch sehr protestantischen Landeshauptstadt.

Josef Probst war ein Förderer der naturwissenschaftlichen und historischen Interessen seines Kaplans – das war - scheint mir - eine bisher nicht erkannte Wissenschaftler-Arbeitsgemeinschaft, in einem oberschwäbischen Pfarrhaus.

Ich erwerbe einen "Katalog" zu der genannten Ausstellung (Geschichte der Erforschung der regionalen Römerzeit). Ich stelle zuhause fest, dass ich zum selben Thema bereits eine Veröffentlichung des Landesdenkmalamts und des Limes-Museums besitze, aus dem Jahr 1992. Großer Unterschied: Damals viel mehr Text, viel weniger Bilder und zudem keine farbigen.

Fragen zur Römerzeit in Deutschland, Fragen, die die Wissenschaft noch kaum beantwortete

Die Reste des einstigen Kastells Aalen im Freigelände um das Limes-Museum sind imponierend. – Man fragt sich: Wie schafften die Römer solche Gebäude in einem – unterstellt – öden Land? – Auch die Verpflegung von TAUSEND Pferden, von den Reitern ganz abgesehen, war ein enormes wirtschaftliches Problem.

Die materialen Leistungen der damaligen Besatzer werden meines Erachtens weit unterschätzt; sie sollten ausführlicher erforscht und dargestellt werden.

Schöner Blick vom Kastell-Rest nach Süden und Südwesten Richtung Alb-Nordrand.

Fahr nach Schwäbisch Gmünd, auf der linken Seite immer der Alb-Nordrand, landschaftlich sehr schön. Im Hintergrund sind die Stauferberge erkennbar.

In Gmünd Besuch des Münsters: Sehr schöne Innenarchitektur. Interessante Seitenaltäre, unter anderem einer, den ein Nürnberger Kaufmann stiftete; er war vor der Pest aus Nürnberg geflohen und anscheinend in Gmünd freundlich aufgenommen worden.

Der Heilige Veit, in Gmünd mal anders als sonst

Uli entdeckt eine Statue des Heiligen Veit, der hier – nicht wie sonst häufig – als im heißen Ölfass sitzend dargestellt ist, sondern einen kleinen Ölkessel liebevoll an sich drückt, als hätte er darin Salböl - smiley.

Schaurig geschmacklose Lampen auf einem Marktplatz, der von barocken Bürgerhäusern umstellt ist.

Blick in den Innenhof des einstigen Spitals: mit reizvollem Wasserspeier in Form eines Posaune blasenden Engels und ein hübsches broncenes Adam-Eva-Paar auf einer Grünfläche, Stil der 50er, 60er Jahre.

Das Heimatmuseum im sogenannten Prediger ist an diesem Montag geschlossen. Auch das Limes-Museum war offiziell geschlossen, aber wir hatten Glück, dass dort grad die bisherige temporäre ausgeräumt wurde und der Chef generös war. Er sah wohl, dass wir pflegeleichte Gäste sind.

Hoch zum Rechberg mit seiner Burg. Von dort aus schöner Blick teils nach Osten, teils nach Westen und Süden.

Männer sind dabei, eine Sandstein-Burggrabenmauer zu restaurieren. Für das Heben verwenden sie ein Gerät mit einem komischen Namen, Afrikaner? oder so ähnlich.

Grenzsteinmuseum bei Ostrach

Auf dem Weg nach Überlingen entdecken wir hinter Ostrach ein Schild: Grenzstein-Museum. Wir suchen ein wenig, fragen eine Lehrerin einer nahen Schule, die gerade mit Schülern einen Bus besteigen will und finden dann ein ungewöhnliches Freilichtmuseum, das erst wenige Jahre alt ist. Versammelt sind hier zahlreiche Marksteine. Hier stießen früher drei Länder zusammen: Hohenzollern, später zu Preußen gehörig, Württemberg und Baden. Dazuhin waren die Grenzverläufe verknubbelt; es gab Enklaven des einen Landes in je benachbarten Ländern.

Ein etwa hundert Quadratkilometer großes Gebiet wurde in einem verkleinernden Maßstab nachgebildet, so dass dieses Gelände jetzt noch fünfzig auf fünfzig Meter misst. Darin sind Wege und Wasserläufer, auch größere Berge einigermaßen nachgebildet, man kann auf dieser "Landkarte" aus Erde, Steinen, Kies herumlaufen. - Die Standorte der einzelnen Dörfer sind erkennbar, dazu auf Stelen kurze Angaben zur Einwohnerzahl und zur Dorfgeschichte lesbar. Mehrere Schilder wurden bereits abgerissen und entwendet. Fast jedes noch vorhandene Schild war von Vögeln verschissen, die allem nach die Ständer gern als Sitze verwenden. Uli und ich putzen den Vogelkot von zahlreichen Schildern.

Die Anlage geht auf die Initiative eines wanderfreudigen Ehepaars zurück: Das Paar schritt die alten Grenzverläufe ab, kundschaftete die Lage der einstigen Grenzsteine aus, notierte das und erstellte eine Plan für das Grenzstein-Museum. An dessen Erstellung arbeitete das Paar kräftig mit.

Auf einem reizvollen, umleitungsbedingten Umweg erreichren wir Überlingen.

Dort ist grade Jahrmarkt. Ein Honighändler bis aus Oberelchingen östlich Ulm (also gut hundert Kilometer entfernt) ist da.

Hit auf dem Markt: Reinigungsmittel aus Kalkstaub. Eigentlich ist dieses Verfahren traditionell, war aber lange Zeit ziemlich vergessen.

Zwar haben wir an diesem Vormittag keine Sicht auf den See - zu viel Dunst, aber trotzdem wird es ein schöner Herbstnachmittag, mit Spaziergang entlang dem See, durch einen Park mit schönen, großen, seltenen Bäumen ("Arboretum").

Auf dem Platz am See ein mächtiger Brunnen, bekrönt von einem Reiter, der sichtlich Züge des Schriftstellers Martin Walser trägt (Walser wohnt in dem Teilort Nussdorf oberhalb Überlingen).

Das Überlinger Heimat- und Stadtmuseum

Diesmal will ich endlich das Heimatmuseum oben auf dem Berg im einstigen Reichlin-Meldeggschschen Schloss besichtigen.

Wir gehen eine steile Treppe innerorts hoch.

Das Museum ist "eine Entdeckung": Viele und hübsche Veduten und Porträt-Bilder aus der Zeit um 1800 – mein Kunstvergügen, das man in keinem großen Museum findet, weil den dortigen Museumsverantwortlichen diese Kunst zu bieder, zu bescheiden, zu unartifiziell ist.

Dann eine sehr sehr große Sammlung sehr hübscher Puppenstuben.

Erinnerung an einen fast vergessenen interessanten Mann, Justus Hermann Wetzel

Im obersten Stock mit seinem großen, barock stuckierten Saal eine Ausstellung zur Erinnerung an einen Mann, Justus Hermann Wetzel, der nach dem Krieg aus dem zerbombten Berlin nach Überlingen kam, hier noch bei Klavierabenden als Begleiter auftrat, hier sein Buch über den Schweizer Pazifisten, Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Spitteler abschloss und hier dem damals gegründeten Bodensee(kultur)verein präsidierte. Er war Komponist, Kompositionslehrer in Berlin gewesen, Briefpartner von Hesse, Verfasser mehrerer Bücher, darunter als erstem einer Darlegung der Geschichte des Pazifismus (1905), verheiratet mit einer jüdischgeborenen Ärztin. Wegen ihr verlor er seine Stelle an der Berliner Musikhochschule. Er konnte aber diese Frau und Mutter seiner einzigen Tochter über das Dritte Reich hinwegretten. Anscheinend spielte bei diesem Vorgang die Demonstration einer Reihe arischen Frauen in Berlin zugunsten ihrer nichtarischen Ehemänner eine Rolle.

Man stelle sich vor: Man kann ein Mord-und-Totschlag-Regime überstehen, weil sich der Ehemann einsetzt und bereit ist, seinen Beruf zu verlieren. Oft war es leider nicht so (unter anderem im Fall der durch die Herausgabe ihrer Briefe kürzlich in Erinnerung gebrachten, ermordeten Ärztin Lilli Jahn).

Trotzdem wird mir dieser vielseitig tätige, gebildete, auch tapfere Mann nur begrenzt sympathisch: Auf allen Fotos sieht er aus wie mit einem Magenleiden; man vermutet, er habe nie gelacht oder sei dazu eigens in den Keller gegangen.

http://www.udk-berlin.de/sites/content/zielgruppen/presse/pressemitteilungen/archiv/2005/justus_hermann_wetzel_am_bodensee/index_ger.html

Ich erwerbe den Katalog zur Ausstellung; er wird eröffnet mit einem Grußwort der noch lebenden Tochter des Mannes, derzeit hochbetagt, über achtzig Jahre alt, in Paris lebend, wo sie vor langem einen Komponisten geheiratet hat. Von ihr stammt ein großer Teil der ausgestellten Gegenstände.

Zusammengestellt wurde die Ausstellung von der Berliner Hochschule, an der der Verewigte einst unterrichtete.- Sein Briefwechsel mit Hesse entstand, weil er zahlreiche Gedichte des Schriftstellers vertonte; die Vertonungen scheinen Hesse zugesagt zu haben. Insgesamt vertonte H. Wetzel tausend Gedichttexte, etwa hundert sind gedruckt.

Das Überlinger Stadtmuseum wird betreut von einer Familie mit kleinen Kindern; die tollten gerade im Erdgeschoß herum. Das war echt schön: mal ein Museum, das lebt und nicht so altersschwach vor sich hingammelt.

Vom Park hinter dem Schloß aus hat man einen wunderbarenr Blick auf den See und auf Überlingen mit seinen ungewöhnlichen beiden Kirchtürmen und dem Rathausturm.

"Das erste Gebäude in Deutschland mit Landschaftsblick"

In einem Katalog zu der gerade laufenden Ausstellung "Tausend Jahre Kunst in Überlingen" wird auch auf das Reichlin-Meldeggsche Schloss eingegangen, in dem sich jetzt das Stadtmuseum befindet. Es wird hier kurioserweise wegen italenischer Vorbilder als Palazzo eingestuft. Für einen Palazzo müsste das Gebäude meines Empfindens größer, heller, offener sein. So was stellt man sich unter Palazzo jedenfalls umgangssprachlich vor. Wen interessiert schon die kunstgeschichtlich exakte Nomenklatur? !

Vorbild für den Bauherr, einen reichen Überlinger Prominenten-Arzt Reichlin-Meldegg um die Mitte des 15. Jahrhunderts waren italienische Renaissance-Schlösser, wie damals wohl auch eines von dem mit Reichlin-Meldegg befreundeten Papst Pius II (Ennea Piccolomini) errichtet wurde. Der Überlinger Arzt hatte seine internationalen, oberschichtigen Kontakte beim Konstanzer Konzil gewonnen.

Einer seiner Nachfahren musste das Schloss im 17. Jahrhundert wegen Überschuldung verkaufen. Einer der Reichlin-Meldeggs brachte es zum Abt des Fürststiftes Kempten. Noch heute gibt es Nachfahren aus dieser Sippe. Einige waren früher auch hohe Militärs.

Im Stadtmuseum gibt es eine stattliche reizvolle Sammlung von Bildern von Angehörigen dieser aus dem Bürgertum aufgestiegenen Familie. – In dem Katalog (den eine Tochter eines zeitweilig in Obermarchtal wohnenden Landesdenkmalamtskonservators mitverfasste) wird die These vorgetragen, dass dieses Schloss das erste in Deutschland gewesen sei, das wegen einer schönen Aussicht so platziert wurde und auch der erste solche Bau mit Quadermauerwerk, wie es im Italien der frühen Renaissance erstmals kreiert wurde.

Im Museumsgarten sind einige mittelalterliche jüdische Grabsteine in eine Mauer eingelassen, es sollen die ältesten in Baden-Württemberg sein. Sie überstanden das Dritte Reich.

Dann ein ungewöhnlich schönes Biedermeier-Denkmal mit großer Aufschrift, zur Erinnerung an einen um 1800 gestorbenen Überlinger Stadtarzt – ein Typus von Grabmal, der mir drjt gefällt. Selbst vergleichsweise große Grabmäler wie dieses in Überlingen (das bisher größte bürgerliche Grabmal jener Zeit, das ich kenne) zeigen noch lange nicht den Pomp wie bürgerliche Grabmäler im Wilhelminischen Kaiserreich und später .

Nach dem Ersten Weltkrieg war Überlingen eine Künstlerstadt

Interessant: In den 20er Jahren war Überlingen ein Künstlertreff. Die Künstler kamen aus deutschen Großstädten in die idyllische Bodenseestadt, weg von den (infolge Klassenkämpfen) zerstrittenen und vor allem infolge des Kriegs verarmten Metropolen. So gab es hier eine richtige Maler- und Dichter-Idylle. Die Überlinger feiern sich daher heute gern als Künstler- und Dichterstadt am Bodensee.

Interessant: Unter den Zugewanderten war damals auch ein jüdischer Maler und Kunsthistoriker, der gleich nach dem Dritten Reich aus England wieder hier her zurückkehren wollte.

 

Veit Feger

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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