Wie man in Nördlingen mit der jüdischen Geschichte der Stadt
umgeht
Ich kaufe auf dem Flohmarkt in Riedlingen am 22. Mai 2007 eine
Stadtgeschichte von Nördlingen, erschienen zu deren 1100-Jahr-Feier 10 Jahre
zuvor: „Die Stadt – 1100 Jahre Nördlingen – Geschichte und Geschichten",
herausgegeben im Auftrag der Stadt Nördlingen, 1997. 340 Seiten, Großformat,
viele farbige Fotos, feudale Ausstattung.
In Nördlingen gab es im Mittelalter in zeitlicher Abfolge mehrere jüdische
Gemeinden: War eine Gemeinde verjagt oder ausgelöscht worden, so kam es doch
später zu einer erneuten Niederlassungen von Juden. Nach einer langen Zeit
ziemlicher “Judenfreiheit” kam es in der Folge der sogenannten Judenemanzipation
Mitte des 19. Jahrhunderts erneut zu einem stärkeren Zuzug von deutschen Juden
nach Nördlingen. Sie kamen vor allem aus Umgebungsdörfern in die Stadt; es
entstand erneut eine jüdische Gemeinde, die im ausgehenden Wilhelminischen Reich
sogar eine stattliche, zweitürmige Synagoge errichten ließ. -
Die Geschichte der Juden in Nördlingen wird in dem genannten Stadtgeschichtsbuch
nicht übergangen: Auf mehreren Seiten ist einiges zu diesem Themenbereich zu
lesen, freilich mehrfach mit seltsamer Wortwahl und eigenartigen
Erklärungsversuchen.
Da wird die Stadt Nördlingen von Autor Bernd Eichmann bedauert, weil im 14.
Jahrhundert König Wenzel nach einem Massaker an den städtischen Juden
“Schadenersatz” von der Stadt fordert. Der König forderte diesen Schadenersatz
aber nicht, damit der angerichtete Schaden durch Zahlungen an eventuell
überlebende Juden ausgeglichen werden könne (woran wir heute bei dem Wort
"Schadenersatz" denken), sondern dieses Geld sollte ausschließlich an ihn, den
König, selbst gehen, weil ihm durch das Massaker die Kammerknechte-Steuer
entging.
Sehr schlimm kann es mit dieser Forderung aus Prag an die Stadt Nördlingen nicht
gewesen sein, denn bereits 1385 „verspricht Kaiser Wenzel, die Stadt gegen jeden
zu schützen, der sie wegen der Judenschlacht angreife". („Judenschlacht" müsste
eigentlich „Schlachtung" heißen; Wenzel war nicht Römischer Kaiser, sondern
„nur" König).
1393 beschlíeßt der Rat der Stadt Nördlingen, „für den Frevel in seinen Mauern
Buße zu tun. Als eine Art Sühneleistung will er die Synagoge nebst einigen
Nebengebäuden dem Antoniterorden zur Verfügung stellen." (110).
Was daran BUSSE sein soll, ist mir unverständlich: Schließlich muss man auch in
der Bußpraxis der katholischen Kirche zunächst einmal Sühne DEMjenigen leisten,
der zu Unrecht geschädigt wurde. Bußen müssten also eigentlich an überlebende
Juden geleistet werden. Zudem: die Einrichtung einer Niederlassung des
Antoniterordens bedeutete damals die Gründung eines Krankenspitals in der Stadt,
also ein Stück Investition in die soziale Grundversorgung. Der Antoniterorden
beschaffte sich das Geld für seine Krankenhäuser durch europaweite Bettelgänge
(insofern wurde die städtische Kasse durch eine solche Ordenseinrichtung
geschont).
„In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, der sogenannten
‚Reichskristallnacht‘, schwappt das reichsweite Pogrom auch nach Nördlingen
über" – Es „schwappt" – als ob es sich um einen Vorgang aus der Physik flüssiger
Gegenstände handele.
„Die SS verhaftet dreißig Juden" : „die SS"; das scheint eine Organisation ohne
Namen zu sein...
„Zwanzig von ihnen (sc. Juden) werden nach Wochenfrist entlassen. Den Rest
verschlägt es nach Augsburg, dann ins KZ Dachau" (114) – „verschlägt es", als ob
das ein naturwüchsiger Vorgang gewesen sei, bei dem keine Täter beschäftigt
waren.
Über die “Endlösung” im Falle der noch verbliebenen Juden in Nördlingen heißt es
u. a. „Der Transport (vom 2. April 1942) verschwindet im polnischen Hinterland,
keine Todesmeldung kommt zurück. Die Deportierten werden als ‚verschollen‘
geführt." - Auch hier wieder eine eigenartige Wortwahl: der Transport
VERSCHWINDET. Als ob wir es nicht besser wüssten.
Beim letzten Abtransport, am 6. August 42, nach Theresienstadt, werden drei
Todesfälle der Stadtverwaltung gemeldet, „Todesort und Todesart der übrigen (13
Abtransportierten) sind nicht bekannt." Ich vermute eher, dass jemand Akten der
Stadtverwaltung vernichtet hat. Wir erfahren auch nicht, ob Akten der
Lagerverwaltung Theresienstadt abgefragt wurden.
Die Autobiographie der jüdischen Deutschen Resi Weglein wird in dem Buch kurz
referiert: Weglein hatte 1922 von Nördlingen nach Ulm geheiratet und hat den
Zwangsaufenthalt in Theresienstadt als Krankenschwester überlebt. Was aus ihr
NACH Theresienstadt wurde, erfahren wir in der Nördlinger Stadtgeschichte nicht.
– (Es gibt aber aus ihrer Feder eine Autobiographie, veröffentlicht vom Ulmer
„Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg").
Im Jahr 1955 (!) wurde die (damals als Bauwerk noch vorhandene) Nördlinger
Synagoge abgerissen. Warum? Aus dieser Stadtgeschichte erfahren wir es nicht.
1989 wird in der Stadt eine Stele zur Erinnerung an die einstige jüdische
Gemeinde aufgestellt. Diese Stele, so lesen wir, wurde finanziert von dem
„Augsburger Großunternehmer Albert Schenawsky", der Angehörige aus Nördlingen im
Dritten Reich durch Ermordung verlor. (Schenawsky schreibt sich richtig
Schenavsky). - Warum wird Schenavsky in dem Buch „Großunternehmer" genannt? -
Ich meine: Diese Wortwahl hat ein antisemitisches Gschmäckle. - Soweit mir im
Internet erkennbar, ist oder war der Augsburger oder Berliner JAKOB Schenavsky
einfach Immobilienhändler. Das war auch der Beruf, in dem der nach dem Dritten
Reich zunächst mittellose Ex-KZ-Häftling Ignaz Bubis in der BRD zu Vermögen kam.
).
In der hier besprochenen Stadtgeschichte erfahren wir weiter: Die
Umfassungsmauer des jüdischen Friedhofs wurde in den vierziger Jahren teilweise
abgetragen und die Steine zum Bau von Behelfswohnheimen verwendet. Auch ein Teil
der Grabsteine wurde entwendet, „Steinmetze bedienten sich (!) gleichfalls bei
den Grabsteinen, mit Wissen der städtischen Behörden. Der Friedhof verkam zum
Steinbruch." Ein Prozess „gegen die amtlichen Grabschänder vor dem Augsburger
Landgericht verlief im Sande." - Ich meine: Auch diese Formulierung ist wieder
fatal rechtfertigend: VIELE Prozesse gegen NS-Täter nach dem Dritten Reich
wurden niedergeschlagen, wurden verschleppt bis zum Tod oder zur (oft
angeblichen) Behandlungsunfähigkeit des Angeklagten etc. Sie „verliefen sich"
wohl nur sehr selten ZUFÄLLIG „im Sande".
Die seltsame Art, wie Details der jüdischen Geschichte Nördlingens in der hier
besprochenen Stadtgeschichte behandelt werden, erstaunt um so mehr, als ein
wichtiger Autor dieser Stadtgeschichte, Bernd Eichmann, ein selbständiger
Historiker und Journalist Jahrgang 1953, Bücher über die seltsame,
unbefriedigend Art verfasst hat, wie in Deutschland und in Europa der
Judenverfolgung gedacht wird: Bernd Eichmann: Versteinert, verharmlost,
vergessen : KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M.,
Fischer Taschenbuch Verl., 1985. - 220 S. ISBN 3-596-27561-X - Bernd Eichmann:
KZ - Gedenkstätten in Europa. Verlag Fischer, Frankfurt. 2001. ISBN 359611781X -
Eichmann motiviert seine Untersuchungen mit der „jüdischen Abkunft" seines
Vaters; sie habe ihn dazu bewegt, „sich mit der Geschichte des
Nationalsozialismus und ihren Hinterlassenschaften zu befassen" (Aus dem
Deckblatt zu Bernd Eichmann, “Denkmale deutscher Vergangenheit”, 1994).
Wird fortgesetzt. Veit Feger
November 2007
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