Die örtlichen NS-Gewaltigen "verabschieden" sich auf barbarische Weise 

 

Französisches Militärgericht verurteilte 1946 Kreisleiter Hörmann zum Tod und Mitarbeiter zu Zuchthausstrafen – SS-Brigadeführer Diem bleibt unbehelligt

 

Am 15. April 1945 wurde Czeslow Sekutowski am Groggensee ermordet

Tage später lassen Ehinger NS-Gewaltige sieben KZ-Häftlinge meucheln

In der Nacht vom 14. zum 15. April 1945 setzte sich von der Ehinger Unteren Stadt aus das Exekutionskommando in Richtung Groggensee in Marsch. Dort wurde Czeslow Sekutowski an einem Baum aufgehängt. Der 17-jährige Pole wehrte sich. Reichsbahnarbeiter berichteten später, sie hätten in der Nacht Schreie gehört. Einem Landsmann fielen die erdigen Hände und Fingernägel des Toten auf, als er am nächsten Tag bei dem Erhängten eine halbe Stunde „Totenwache“ hielt2. In Untersuchungsakten steht, dass der Körper „von Wunden bedeckt, der rechte Arm gebrochen und einige Rippen eingedrückt waren“3. Am Abend des 15. April nehmen zwei italienische Zwangsarbeiter auf Befehl die Leiche vom Baum ab.

Bis heute ist nicht erwiesen, wer den Polen tatsächlich erhängt hat. Bekannt ist die Vorgeschichte: Der 1885 geborene Bürgermeister und NS-Ortsgruppenleiter von Weilersteußlingen, [lt. Adressbuch 1943. S 175, war BM Ludwig Geprägs und NSDAP Ortsgruppenleiter Hans Schaude], hatte Sekutowski im Rathaus von Weilersteußlingen eingesperrt. Man warf ihm vor, versucht zu haben, die Frau und die Tochter seines Arbeitgebers zu vergewaltigen4.

Am Samstag, den 14. April, brachte der Weilersteußlinger Ortsgruppenleiter den Polen zum Arbeitsamt nach Ehingen. Dort vermittelte man ihn sofort auf eine freie Arbeitsstelle nach Öpfingen. Maria Bausenhart, geb. Kneißle, erinnert sich heute5: Wir waren auf dem Feld. Als wir nach Hause kamen, saß ein junger Mann auf der Haustreppe. Er sei der neue Knecht, erzählte er. Er sprach gut Deutsch. Beim Abendessen erzählte er, was er mache, wenn er wieder nach Hause komme: „Es gab kein wüstes Wort“, betont die Achtzigjährige [1995] mehrmals. Maria zeigte dem Polen sein Zimmer. Gegen 22 Uhr war überall um das Öpfinger Haus ein heller Lichtschein. Eine laute Stimme forderte, man solle die Tür öffnen. Der Hausherr schickte seine Tochter. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, fordert ein Mann sie auf, ihn zu dem Polen zu führen. Maria durfte kein Licht machen. Sie sollte vorgehen. Der Fremde stieg die Treppe nach ihr hoch und leuchtete mit einer Handlampe auf die Treppenstufen. Er weckte den schlafenden Polen und forderte ihn auf mitzukommen. Er wehrte sich nicht. Der Mann, der schwäbischen Dialekt sprach und peinlich darauf achtete, dass auf sein Gesicht und seine Uniformjacke kein Licht fiel, verlangte nach einem Strick. Als Maria ihm nur eine Paketschnur brachte, verzichtete er darauf und ging mit dem Polen aus dem Haus. Verängstigt schloss Maria Kneißle die Tür. Am nächsten Tag erzählt ihr Nachbar, der als Lehrling in einer Ehinger Metzgerei arbeitete: „Der Pole hängt am Groggensee. Es ist furchtbar, wie der aussieht. Die haben ihm seine Mütze auf den Kopf genagelt“6.

Der SS-General war für eine raschere Gangart

Zwischen dem „Besuch“ in dem Öpfinger Bauernhaus und der Ermordung am Grog­gensee lag der Besuch des Ortsgruppenleiters der Lutherischen Berge bei der NSDAP Kreisleitung. Dort hatte er zuerst dem NSDAP-Kreisgeschäftsführer Maximilian Kienzle7, dann dem Volkssturmführer Alfred Müller8 und später dem Kreisleiter Josef Hörmann9 und SS-Brigadeführer Christoph Diehm10 von seiner Aktion erzählt. Von Diehm gab es dafür nur Tadel. Diehm wollte wissen, warum er den Polen nicht gleich „umgelegt“ habe. Der hohe SS-Offizier erteilte dann in Anwesenheit von Hörmann den Befehl, den Polen an dem Lindenbaum bei der damaligen Reißerei, dem Platz der heutigen Stadthalle, aufzuhängen.

„Die Kirchgänger könnten sich vielleicht stören“

Der Ehinger NSDAP-Ortsgruppenleiter Anton 0tt11, ein Handwerksmeister, war bei dem Gespräch auf der Kreisleitung dabei; er fand den Ort unpassend. Er fürchtete, dass die Kirchgänger am Sonntag Anstoß nehmen könnten und schlug den Groggensee als abgelegenen und weniger anstößigen Platz für den Mord vor. Handwerksmeister Anton 0tt setzte sich mit seinem Vorschlag durch. Er organisierte in seiner Malerwerkstatt auch das Seil. Weil er nicht mehr getan hat, wird er sich später sehr unschuldig vorkommen und wie alle anderen die Schuld auf den „Henker-General“ Diehm abzuladen versuchen, von dem nach dem Krieg angenommen wurde, er sei als Kriegsverbrecher hingerichtet, könne also niemand anderen mehr belasten.10a

KZ-Häftlinge flüchten, werden aber wieder gefangen

In den ersten Apriltagen waren aus einem Eisenbahntransport, der durch den Kreis    Ehingen geführt wurde und wahrscheinlich das Lager Lindele12 in Biberach als Ziel hatte, KZ-Insassen aus Buchenwald13, Oberndorf-Aistaig14 und Schömberg15 ent­kommen.

Die entlaufenen KZ-Häftlinge entwendeten in Dörfern Essbares und Kleidung. Dies rief die Gendarmerie und die Landwacht auf den Plan. Elf der Entflohenen wurden im Raum Ehingen gefasst und im Amtsgefängnis Ehingen in einer 16 Quadratmeter großen Zelle eingesperrt. Das Gefängnis ist nun überfüllt. Im April werden Gefangene aus dem Amtsgerichtsgefängnis Leonberg nach Ehingen überstellt14a. Die Gendarmerie wird eingeschaltet. Später sollte sich um diese Nebensache für die Mordtat ein Wirrwarr an abenteuerlichen Schuldzuweisungen ranken: Weil auch der Hilfsaufseher des Gefängnisses, der Korbmacher Pius Sproll, auf die Überfüllung verwiesen haben soll, fühlte sich später der leitende Ehinger Gendarm, Bonaventura Leibinger16, für sein Tun entlastet. Gesichert ist, dass Leibinger am 20. April seinen Untergebenen, Wachtmeister Christian Gutbrod15a, zur Gestapo-Außenstelle nach Ulm beorderte. Dort sollte er Anweisungen für die weitere Behandlung der Gefangenen erfragen. Am Vortag will sich Leibinger noch an das Kriegsgefangenenlager im damaligen Konvikt mit der Frage gewandt haben, ob die KZ-Gefangenen nicht ins Konvikt überstellt werden können. Die Lagerleitung machte Platzmangel geltend und soll den Wunsch auch mit dem Hinweis abgelehnt haben, bei ihren Gefangenen handle es sich um tuberkulosekranke russische Soldaten.

Gegen 11 Uhr kehrte Gutbrod ohne Anweisungen zurück17. In Ulm hatte man bei der Gestapo an der Ehinger Angelegenheit kein Interesse. Nach längerem Warten war dem Polizisten gesprächsweise mitgeteilt worden, die Ehinger NS-Kreisleitung könne über die Inhaftierten verfügen. Leibinger schickte darauf Gutbrod zur Kreisleitung. Dort traf der auf Kreisleiter Hörmann, den Kreisgeschäftsführer Kienzle und den Volkssturmführer Müller. Auch Ortsgruppenleiters 0tt war zu der Gruppe gestoßen, die sich nun zur Beratung in das Zimmer des Volkssturmbataillons zurückzog.

Die nötige Giftmenge scheint nicht beschaffbar

Das Ergebnis dieser kurzen Besprechung der führenden örtlichen NS-Mitglieder war: Die Häftlinge sind noch am Abend in der Wolfsgurgel zu erschießen. Bei der Beratung wurde auch überlegt, die Gefangenen in ihrer Zelle zu vergiften. Man verwarf diesen Plan, weil man sich nicht klar war, ob die notwendige Giftmenge zu beschaffen ist. Der Vorschlag, die Gefangenen in einen anderen Bezirk zu schaffen, wurde ebenfalls verworfen. Müller verwies darauf, dass dazu der Wagen und das Benzin fehlen. Es wurde dann darüber geredet, ob der Volkssturm das Massengrab ausheben solle. Müller lehnte mit der Bemerkung ab, dass Spione und Lumpen ihr Grab selber schaufeln sollen.

Französische NS-Freunde als Erschießer-Kommando

Für die Erschießung wollte man sich der Doriot-Milizionäre18 bedienen. Zwei der im Josephinum untergebrachten französischen Faschisten waren zu dieser Zeit in der Kreisleitung anwesend und wurden vom Ortsgruppenleiter zu der Besprechung hinzugebeten. Sie erklärten sich bereit, zusammen mit anderen die Erschießung auszuführen.

„Die NS darf alles“

Der Ortsgruppenleiter gab den Franzosen detaillierte Anweisungen. Er erklärte, wo sich Spaten und Pickel beschaffen lassen. Wie beim Groggensee-Mord legte er den Exekutionsort fest. Anhand einer Karte suchte er die abgelegene Stelle an der alten Straße nach Weilersteußlingen, im dortigen Waldgebiet aus. Er teilte dann im Auftrag von Hörmann dem Chef der Gendarmerie telefonisch mit, dass die elf Gefangenen erschossen werden sollen. Der oberste Ehinger Gendarm erhob keinen Widerspruch. Später sollte er zu seiner Entlastung sagen, dass er überzeugt war, dass die NS-Kreisleitung „die Vollmacht hat, von sich aus Exekutionen vornehmen zu lassen“. Er war auch ohne Diskussion bereit, das Begleitkommando auf dem Gang zur Hinrichtungsstätte zu stellen und bestimmte Gutbrod als Führer. Die Gendarmeriemeister Schwan, Schnellbacher und Heuschmidt19 vervollständigten den Wachtrupp.

Den Marsch in den Tod schafften gar nicht alle

Um 17 Uhr waren die Gendarmen beim Amtsgerichtsgefängnis. Dort übernahmen sie die elf Gefangenen. Der Marsch in Richtung Münsingen begann. Münsingen sollte auch Dritten als offizielles Marschziel genannt werden. Bereits nach achtzig Metern brach einer der Häftlinge zusammen. Mit Fußtritten wollte ihn der Anführer der Gendarmen zum Weitermarschieren bringen. Als das nichts half, wurde der entkräftete Mann ins Gefängnis zurückgebracht. Gutbrod meldet dies in der Kreisleitung.

„Ein besonderes Essen“

Hörmann ließ darauf Leibinger auffordern, dafür zu sorgen, dass der Mann im Gefängnis vergiftet wird. Leibinger schickte einen Polizisten20 mit der Anweisung zu Amtsgerichtsrat Vetter21, ihm „ein besonderes Essen“ zu verabreichen. Als Vorstand des Amtsgerichtsgefängnisses weigerte der sich, den Auftrag auszuführen. Der mit Fußtritten malträtierte Häftling war am anderen Tag tot.

Alles ordentlich geplant, wie immer

Die Kolonne der zehn Häftlinge und vier Polizisten gingen zunächst auf der Landstraße nach Altsteußlingen und bogen dann im Wald in die alte Straße nach Weilersteußlingen ein. Mit dem Fahrrad fuhr Gutbrod zum Hinrichtungsplatz voraus. Dort befanden sich bereits vier Milizionäre. Sie waren mit Maschinenpistolen bewaffnet und hatten in einem Handwagen Schaufeln und Pickel zu der kleinen Lichtung gebracht.

Drei Häftlingen gelingt nochmals die Flucht

Als die Häftlinge mit ihren vier Bewachern auftauchten, lotste sie Gutbrod in einen rechts abzweigenden Waldweg. Das Arbeitsgerät wurde an die Häftlinge verteilt, nachdem ihnen die Handfesseln abgenommen worden waren. Zwei Milizionäre gingen in die Stadt zurück. Der Führer der Gendarmen zeigte mit der Pistole auf den Platz, auf dem die Grube ausgehoben werden sollte. Die Gefangenen, die inzwischen wussten, welches Schicksal sie erwartete, wurden unruhig. Während der Grabarbeiten gelang zweien gegen 19:30 Uhr die Flucht, obwohl die Gendarmen sofort die Verfolgung aufnahmen und dabei auch schossen. Bei der Verfolgung stürzte Gutbrod über eine Wurzel und schoss sich mit seiner Pistole in den Unterarm. Zwei andere Gendarmen legten ihm einen Notverband an. In dieser Situation gelang einem dritten Häftling die Flucht. In der Zwischenzeit war ein weiteres Kommando der Doriotisten im Wald eingetroffen. Es sollen zwanzig Mann mit einem Capitain an der Spitze gewesen sein. Sie erschossen die verbliebenen sieben KZ-Häftlinge gegen 20:30 Uhr und verscharrten sie.

Einer der Flüchtigen, ein Pole namens Ladkowski, harrte in der Nähe des Massengrabes aus. Später gab er sich vorrückenden amerikanischen Truppen zu erkennen, die am 22. April Ehingen besetzten und über die Landstraße aus Münsingen mit ihren Fahrzeugen in Richtung Süden fuhren. Die brachten ihn in den heutigen Altbau des Gymnasiums, der von den Alliierten den polnischen Zwangsarbeitern als Unterkunft zugewiesen war. Der Mann hatte Wasser in den Beinen und überall am Körper22. Nach einigen Tagen erholte er sich. Von einem Landsmann lässt er sich mit einem Motorrad zum Wald bei Weilersteußlingen fahren. Er erkannte den Seitenweg und fand die Hinrichtungsstätte, auf der inzwischen junge Bäumchen eingepflanzt gewesen sein sollen.

NS-Gewaltige müssen die Verscharrten ausgraben

Ladkowski unterrichtete die französischen Besatzungsbehörden, die seit Anfang Mai das Regiment in der Stadt übernommen hatten. Die Franzosen lassen die Leichen Wochen nach der Exekution von ehemaligen NS-Gewaltigen und deren Frauen exhumieren23. Auf Anweisung der Militärbehörden werden die Leichen samt ihren Ausgräbern fotografiert. Großformatige Abzüge sind dann Monate im Schaufenster des Magazin Francaise, des französischen Soldaten-Kaufladens am Marktplatz, ausgestellt24. Die Leichen der Gemeuchelten werden in den Friedhof nach Ehingen überführt und dort unter großer Beteiligung ehemaliger ausländischer Zwangsarbeiter beigesetzt25. „Bei der Beerdigung mussten die Parteigenossen Blumen in die Gräber werfen. Der Friedhof war von Ausländern überfüllt; man sprach von anschließenden Gewalttaten26, so wurde die Beisetzung zwanzig Jahre später mündlich überliefert.

Kreisleiter Hörmann hatte keine Gelegenheit, den Toten Blumen ins Grab nachzuwerfen. Er war mit dem Volkssturm in Richtung Allgäu gezogen, als Ehingen besetzt wurde. Am 16. Mai wird er von den Amerikanern bei Legau gefangengenommen. Seine Papiere sind in Ordnung, er kann seiner Wege gehen. Doch Hörmann fühlt sich bei den Amerikanern offensichtlich besser aufgehoben. Er stellt sich ihnen erneut am 3. Juni und wird ins Internierungslager Ludwigsburg eingeliefert. Wenn er dadurch der Ehinger Besatzungsmacht entgehen wollte, ging die Rechnung nicht auf. Die Franzosen fordern ihn an und sperren ihn in Reutlingen ein.

Der weitere Hauptbeschuldigte, Leibinger, wird von den Franzosen erstmals am 11. November festgenommen. Am 5. Januar 1946 wird er in Reutlingen wieder entlassen. Er kehrt nach Ehingen zurück. Am 10. Juli wird er wieder verhaftet und nach Rastatt gebracht. Gutbrod wird am 27. November 1945 verhaftet.

Der Prozess in Rastatt

In Rastatt machte ihnen und den anderen Tätern mit Ausnahme von General Diehm das Tribunal General, das oberste französische Militärgericht in der französischen Besatzungszone, den Prozess. Gegenstand sind der Mord an Czeslaw Sekutowski am Groggensee und die „Ermordung oder versuchte Ermordung von elf alliierten Depotierten“27. Gehört werden auch Zeugen aus Ehingen, die mit einem Lastwagen zu der Verhandlung nach Rastatt gefahren werden.28

Das Gericht erklärt „mit mindestens Zweidrittel Mehrheit die Angeklagten der Kriegsverbrechen schuldig: Mord, Teilnahme am Mordversuch in alliierten Deportierten...im Sinne des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom 20. Dezember 1945“27a. Hörmann wird persönlich für den Tod von acht Personen verantwortlich gefunden und zum Tod verurteilt. Leibinger wird zu lebenslänglichem Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt. Für Gutbrod, Ott und Kienzle hält das Gericht zwanzig Jahre Zuchthaus für angemessen. Wörtlich: „Die Verfehlungen sind schwer, und Zuchthaus ist nötig, um ihre Untaten zu bestrafen“. Der Weilersteußlinger BM wird zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Ihm wird sein Alter strafmildernd angerechnet. „Auch hat das Ergebnis wohl seine Absichten übertroffen“, vermerkt Gerichtspräsident Levy in der Urteilsbegründung zugunsten des Mannes, der Sekutowski zuerst in seinem Rathaus einsperrte und dann nach Ehingen brachte. Volkssturmführer Müller wird im ersten Fall freigesprochen und wegen seiner Mitwirkung im zweiten Fall mit zehn Jahren Gefängnis bestraft. Schnellbacher und Heuschmid werden mit drei Jahren Gefängnis belegt. Hörmann wird Ende Oktober hingerichtet. Die anderen treten ihre Haftstrafen in Wittlich an.

Persilscheine

Nicht viel später treffen die Verurteilten auf mildere Richter. Am 8. August 1949 stellte der Kreisuntersuchungsausschuss für die politische Säuberung27b fest, dass sich der  Ehinger Ortsgruppenleiter weder in dieser noch in einer anderen Position „eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht“ hat. Der Ausschuss, den sechs Ehinger Bürger bildeten, gab auch dem Urteil des katholischen Ortsgeistlichen, Dekan Otto Eith28, Gewicht, der meinte, dass „für einen gewöhnlichen Mann aus dem Volk die unübersichtliche Verwirrung zur großen Tragik geworden“ sei. Die Spruchkammer kassierte diese Beurteilung der Vorinstanz als nicht haltbar.

Leibinger lässt ein Jahr später in einem Gnadengesuch an die französische Justiz seinen Rechtsanwalt vortragen: „Die deutsche Stärke sowohl wie die deutsche Schwäche beruht im Gehorsam“. Sein Mandant habe einem Befehl Folge geleistet. Diesen Befehlen sei der „Mantel des Patriotismus“ umgehängt gewesen. Denn es habe 1945 ein „scheinbar moralischer Befehl gegolten, alles zu vernichten, was dem Volke schädlich war, um auf diese Weise vielleicht noch der drohenden Katastrophe zu entgehen“. Dies sei in Rastatt zu wenig gewürdigt worden, heißt es in dem Schreiben des Anwalts vom Dezember 1950 (!). Auch für Leibinger findet der Ehinger Stadtpfarrer Eith Entlastendes: Er war „loyal und korrekt gegen die Kirche“ und habe die Geistlichkeit vor „drohenden Maßnahmen verständigt“. Der nachmalige Bischof Karl Josef Leiprecht, von 1932 bis 1942 Vorsteher des Konvikts in Ehingen, veranlasste 1950 einen weiteren Persilschein des Ehinger Stadtpfarramts für den Wittlicher Häftling. Im Januar 1952 wird Leibingers Haftzeit auf zehn Jahre ermäßigt. Gutbrot, der zweite Polizist, der noch nicht entlassen ist, wird die Hälfte seiner Strafe erlassen.

Schöne Predigt: Aus Tätern werden jetzt Opfer

Hatte Pfarrer Eith dem Ortsgruppenleiter „große Tragik“ attestiert, so schrieb er 1950 über den Kreisleiter: „Alles in allem: Opfer höchster Tragik“. Zuvor hatte er in seinem Schreiben an die Spruchkammer, das von der Witwe des Hingerichteten angerufen worden war, ausgeführt: Von seiner „aktiven Teilnahme an der Tötung ausländischer Gefangener erfuhr die Öffentlichkeit erst mit der Aufnahme des feindgerichtlichen (!) Verfahrens. Jedenfalls hat er auch dieses Delikt nicht provokatorisch durchführen lassen und die Verletzung des Volksgewissens selbst gescheut“. Diese Dezenz und Rücksicht auf die eigenen Volksgenossen entschuldigt in den Augen des Kirchenmannes offenbar manche,

BM Kauter: Niemand weiß hier etwas

Wurden dem Geistlichen nach wenigen Jahren Abstand Täter zu Opfern, so gaben sich andere einfach unwissend. Der erste Nachkriegsbürgermeister; Max Kauter, schreibt im August 1949 auf eine Anfrage des Kreisuntersuchungsausschusses: „Wer für die Erschießung der 7 Russen und das Hängen des Polen verantwortlich (ist), ist hier nicht bekannt“. Der zweite Nachkriegs-Landrat, Gnann, steht dem Bürgermeister der Stadt an Unverfrorenheit nicht nach. Mitte 1950 schreibt er an den Staatskommissar für politische Säuberung, dass sein Amt über „keine Unterlagen über Erschießung von KZ-Häftlingen“ verfügt. Er fährt fort: „Dem Landratsamt ist nur bekannt geworden, dass Amtsgerichtsrat Vetter von der Besatzungsmacht wiederholt zu den Erschießungen gehört wurde“. Vom Amtsgerichtsrat kann man gut reden: Der ist „unterdessen verstorben“, wie Gnann be­dauernd hinzufügt.

Kurt Georg Kiesinger hat seine Geschichte bereits bewältigt

Kauter setzt seine politischen Beziehungen für die Verurteilten ein. Im März 1950 dankt ihm einer der Wittlicher Häftlinge, dass er „anlässlich des Besuchs des Bundes­ratsmitglieds Dr. Kiesinger über mein und das meinen Kameraden zuteil gewordene Schicksal“ sprach und „diesen Herrn für dieses interessiert“ habe. Der spätere Bundeskanzler, der damals seine eigene NS-Geschichte bereits erfolgreich bewältigt hat, will schriftliche Schilderungen der Gefangenen. Die Wittlicher Gefangenen wurden auch im Zeichen des heraufziehenden kalten Krieges vorzeitig entlassen29.

„Schlußstriche ziehen“ statt Sühne

Bereits 1952 hatte man in der Bundesrepublik ein Thema der nächsten Jahrzehnte, das „Schlußstrichziehen“, gefunden. Mit Blick auf eine Debatte im Bundestag zur sogenannten Kriegsverbrecherfrage im September dieses Jahres schreibt heute der Leitende Staatsanwalt der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen für NS-Verbrechen, Alfred Streun: „Es war mehr von 'Amnestie', 'Schlußstrichziehen' und von den 'Opfern der alliierten Militärgerichte' die Rede, als von der Sühne der von den Verurteilten begangenen Verbrechen“30

 

 

Anmerkungen

2 Andrzej Kaleta, vom 22. Februar 1940 bis April 1945 als Zwangsarbeiter im Kreis Ehingen. Gespräch mit Kaleta am 9. Juni 1994 in Ehingen

3 Staatsarchiv Sigmaringen, Wü 13

4 Der sogenannte „GV-Erlass“ der Nazis vom März 1940 sah das Erhängen als mögliche Strafe für einen Polen vor, der „mit einer Deutschen verkehrt, ich meine jetzt also, sich geschlechtlich abgibt“ (Heinrich Himmler). - Die Bestrafung sexueller Kontakte deutscher Frauen mit Ausländern entsprach der rassistischen Ausländerpolitik der Nationalsozialisten aber auch dem „gesunden Volksempfinden“ breiter Bevölkerungsschichten.

5 Gespräch mit Maria Bausenhart am 7. März 1995 in Heufelden

6 In schriftlichen Quellen ist von diesem Detail nirgends die Rede. Auch Kaleta (s. Anmerkung 2) konnte sich, ausdrücklich danach gefragt, an eine solche Grausamkeit nicht erinnern. Sie wird allerdings in späteren Erzählungen und Zeitungsberichten genauso stereotyp wiederholt, wie „der Pole vom Groggensee“ dort bisher nie ein Gesicht, sprich: einen Namen, erhalten hat.

7 Maximilian Kienzle, geboren 1889 in Reute bei Ravensburg. Besuchte das Gymnasium in Ehingen. Postbeamter. Am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten. 1938-1945 „Kreisamtsleiter“, d. h. Kreisgeschäftsführer. Ab 1943 vom Postdienst freigestellt und kommissarischer Kreisleiter, bis 1944 Josef Hörmann dieses Parteiamt übernimmt.

8 Alfred Müller, Volkssturmführer

9 Josef Hörmann, geb. 1892 in Lauingen, 1930 der NSDAP beigetreten. 1933 Kreisleiter in Laupheim. Von 1921-1933 Lehrer in Hüttisheim. Als „alter Kämpfer“ wird er außer der Reihe 1933 zum Oberlehrer und 1934 zum Schulrat in Biberach befördert. Übernimmt Mitte 1944 Kreisleitung in Ehingen, die seit 1942 nach dem Tod seines Vorgängers Zirn kommissarisch verwaltet wurde. Am 29. Oktober 1946 hingerichtet.

10 Christoph Diehm, SS-Brigadeführer, was dem Rang eines Generalmajors in der Wehrmacht entsprach, geboren 1892 in Rottenacker, war letzter SS- und Polizeiführer im Gouvernement Galizien und davor SS- und Polizeiführer in Metz (s. a. Nilberg, Paul, Die Vernichtung der europäischen Juden, Berlin, 1982). Er starb am 10. Juli 1967 in seinem Heimatort.

11 Anton 0tt, geb. 1897 in Ehingen. Bereits 1927 bis 1928 in der NSDAP. Beiträge nicht bezahlt. Nach dem zweiten Beitritt 1934 von einem Parteigericht als Altmitglied anerkannt. Übernahm Mitte 1944 die Aufgabe des Ortsgruppenleiters in Ehingen.

10a So in der Schwäbischen Zeitung vom 20. September 1946, als im überregionalen Teil in einer 46-Zeilen-Meldung unter der Überschrift, „Richter von eigenen Gnaden“, über die Urteile im Prozess gegen die Ehinger NS-Gewaltigen berichtet wird.

12 Im Lager Lindele in Biberach (heute Polizeikaserne) sind Ende des Krieges KZ-Häftlinge aus Buchenwald eingetroffen (s.a. 14).

13 Buchenwald, Konzentrationslager in Thüringen nahe Weimar; viele Außenlager.

14 Oberndorf-Aistaig, Arbeitserziehungslager im Kreis Rastatt bzw. Rottweil

15 Schömberg im Kreis Balingen, eines der Außenlager des elsässischen KZ Natzweiler. Lagerinsassen waren beim Projekt „Wueste“, dem Abbau von Ölschiefer, eingesetzt. Das Lager hatte eine durchschnittliche Belegung von 600 Mann. Zwischen dem 12. und 17. April wurden 317 Gefangene ins KZ Dachau verlegt(!).

14a Albert Bothner, geb. 1889, Landrat im Kreis Ehingen von 1938-1945; bei einer Vernehmung am 14. September 1951

16 Leibinger, Bonaventura, geb. 1891 in Mühlheim bei Tuttlingen. Von 1930-1945 Leiter der Gendarmerie im Landkreis Ehingen. 1937 tritt er der NSDAP bei.

15a Christian Gutbrod, geb. in Asch 1899. Parteianwärter seit 1930; stellv. Ortsgruppenleiter 1932 in Aulendorf. Bis 1941 Versi­cherungsvertreter, dann zur Gendarmerie und seit 1943 Gendarm für Preisüberwachung in Ehingen.

17 Das lag außerhalb der Kompetenz einer Gestapo-Außenstelle. - Polen, „die mit Deutschen Geschlechtsverkehr ausüben oder sich sonstige unsittliche Handlungen zuschulden kommen lassen, sind sofort festzunehmen und dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienst der SS) zur Erwirkung einer Sonderbehandlung fernschriftlich zu melden“. (Erlass des Reichssicherheitshauptamtes vom 8. März 1940). Gegen Kriegsende verschärfte sich die Repressionspraxis allerdings. So gestattete das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) den einzelnen Gestapostellen selbständige Exekutionen von Osteuropäern ab November 1944, wenn es sich um angebliche Saboteure, Plünderer, Deserteure handelte.

16 In Ehingen war von „Leuten der PPF“ (Partie Populaire Francaise) die Rede. Diese Rechtspartei war von Jacques Doriot 1936 gegründet worden. Er gehörte zu den faschistischen Ultras, die Hitler nach der Besetzung Frankreichs ihre Dienste anboten und die Vichy-Kollaborateure wegen ihrer Passivität angriffen. Doriot war mit der von ihm gegründeten französischen Freiwilligen-Legion (LVF) an der deutschen Ostfront. Er galt, seit Pétain und Laval in Sigmaringen im Exil saßen, zumindest dem Auswärtigen Amt als kom­mender französischer Regierungschef. Doriot selbst schlug sein Quartier auf der Insel Mainau auf. PPF-Anhänger, die in den letzten Kriegsmonaten dort keinen Platz mehr fanden, wurden vom SD (Sicherheitsdienst der SS) in das Josefinum nach Ehingen verwiesen. - Unter Doriot wurde im Januar 1945 ein Befreiungskomitee gegründet, zu dem auch der Milizführer Darnand stieß, der sich in Sigmaringen, aufhielt. Darnands Miliz, eine Polizeitruppe, war u. a. auch in Ulm und auf dem Heuberg vertreten. Doriot selbst kam am 22. Februar 1945 bei der Fahrt nach Sigmaringen bei einem Tieffliegerangriff ums Leben. Er wurde in Mengen beigesetzt. - Über eine spätere gerichtliche Verfolgung der Ehinger Mord-Helfer ist nicht viel bekannt. Zweifellos haben die französischen Behörden aber ermittelt. So berichtet: Müller, ihm seien von einem französischen Untersuchungsoffizier 1948 Fotos vorgelegt worden, „auf denen ich den Führer der PPF erkannte“. In einer Erklärung Müllers vom März 1950 heißt es auch: „Inzwischen haben  die französischen Gerichte einen Teil derjenigen inhaftiert, die die Erschießung vorgenommen hatten, darunter auch einige Anführer der PPF“.

19 Schwan, Schnellbacher, Heuschmidt gehörten der Gendarmerie an. Der Erstgenannte wird später gerichtlich nicht verfolgt.

21 Vetter, Eduard, Amtsgerichtsrat in Ehingen, gestorben am 2. Juni 1946 in Tübingen.

23 Kaleta, s. Anm. 2; abweichend davon ist in schriftlichen Quellen davon die Rede, dass sich Ladkowski bereits den ersten amerikanischen Truppen zu erkennen gab.

23 Gröninger, Norbert, Ehingen im Jahr 1945, 1966 (maschinenschriftlich). Gröninger stützt sich auf deutsche Zeitzeugen, wie den ersten Ehinger NS-Kreisleiter Richard Blankenhorn. Von diesen Zeitzeugen wird die Tat bereits wieder eingeordnet: „Aus Ulm kam der Befehl, mit ihnen [den KZ-Häftlingen] zu machen,   w a s   man will“.

24 Es handelte sich dabei um das Textilgeschäft Siessegger, später Commerzbank-Gebäude, heute Metzgereifachhandel, das von den Franzosen beschlagnahmt und als Ladengeschäft für die Truppenversorgung und als Büro genutzt wurde. - Die Fotografien scheinen sich vor Ort nicht erhalten zu haben u.a. im Archiv Schaupp. - Sie liegen nach Auskunft der „Archives de L‘ocupation Francaise en Allemagne et en Autriche“ in Colmar auch nicht bei den Prozessakten des Rastatter Verfahrens, die sich unter den zehn Akten-Kilometern in diesem zentralen französischen Archiv für die Besatzungszeit befinden. Im Übrigen sind die Akten der französischen Militärgerichte hundert Jahre für die Forschung gesperrt, die kompletten Prozessakten des Verfahrens gegen Hörmann und andere sind also erst 2046 (!) einzusehen.

25 Die Kriegsgräberliste Ehingen v. 7.12.1956 nennt den Alten Friedhof, L. III, Reihe 16, als Bestattungsort der namentlich nicht bekannten Ermordeten.

26 Gröninger s.o. S. 32

27 Formulierung des Urteilsauszugs des Rastätter Militärgerichts. Unterzeichnet von dessen Präsidenten Levy am 6. 9. 46, dem Tag der Urteilsverkündung. Staatsarchiv Sigmaringen Wü 13.

28 s. Anm. 5

27a Am 20. Dezember erließ der Alliierte Kontrollrat, das Organ der vier alliierten Mächte zur Ausübung der obersten Regie­rungsgewalt in Deutschland, das Kontrollratsgesetz Nr. 10 über die Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatten.

27b Erste, örtliche Instanz im Entnazifizierungsverfahren, das in Südwürttemberg-Hohenzollern schon frühzeitig von deutschen Instanzen durchgeführt wurde. Die Einstufung entschied auch über Rentenansprüche.

28 Stadtpfarrer in Ehingen 1932 - 1954

30 Alfred Streim, Saubere Wehrmacht? in: Hannes Heer und Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Als der Transport auf der alten Straße nach Weilersteußlingen auftauchte, rief der Gendarm ihn an und gab durch Zeichen zu verstehen, den nach rechts abzweigenden Waldweg einzuschlagen.

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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