Rudolf Nassauer – Bernice Nassauer-Rubens

Ein vergessener Schriftsteller aus der Zahl deutscher Emigranten

Ein englisches Schriftsteller-Ehepaar

Samstag, 9 Juni 2005, Flohmarkt in der Nachbarstadt Biberach. An einem der Stände fällt mir ein ungewöhnliches Titelblatt auf; es zeigt zwei mächtige schwarze Reitstiefel, dazu in Frakturschrift den Titel „Der Unmensch", des weiteren den mir nicht bekannten, jüdisch klingenden Verfasser-Namen „Rudolf Nassauer" und den Gutes verheißenden Verlagsnamen „Diogenes".

Ich blättere und sehe: Erscheinungsjahr des Buches ist 1964 (ich war damals 21 Jahre alt); Ersterscheinungsjahr in England: 1960.

Ich schaue mir die Cover-Rückseite näher an und lese höchste Lobeserhebungen für das Buch und den Autor, aus der Feder des späteren Nobelpreisträgers Elias Canetti, aus der Feder der mir vom Namen her als bedeutende Literaten bekannten Peter Vansittart, Iris Murdoch, Angus Wilson. Canetti schrieb: „Jeder Abschnitt des Buches ist genauso tiefgründig und durchdacht wie packend. Die Kühnheit von Nassauers Glanzleistung ist erstaunlich..."; Vansittart: „Einer der wenigen Schriftsteller dieses Landes, die befähigt sind, einen großen europäischen Ruf zu erreichen. Ein erstaunliches Buch: Mir fällt kein englischer Roman ein, mit dem man es vergleiche könnte... Es erzeugt Spannungen, die fast nicht zu ertragen sind, doch auch nicht einen Augenblick lang kann man aufhören zu lesen." - Iris Murdoch. „Das Buch ist ‚Kunst‘ von der ersten bis zur letzten Seite, ... von moralischer Leidenschaft durchdrungen, und zwar in dem Sinne, wie sie Nietzsche und Dostojewski eigen ist... große Kraft und Schönheit... wichtig zum tieferen Verständnis unserer Welt". Emanuel Litvinoff: „Ein Schlüsselbuch für die europäische Literatur des 20. Jahrhunderts. Stammte es aus der Feder eines Thomas Mann oder Albert Camus – es wäre sofort als Meisterwerk gefeiert worden." Angus Wilson: „durchgehend stark und ergreifend."

Ziemlich viel Tobak, nicht wahr?!

MIR sind Autor Nassauer und Titel „Der Unmensch“gänzlich unbekannt….

Ich beginne nachzuforschen.

Ich besitze zufällig die beinah tausendseitige Geschichte des Diogenes-Verlags aus dem Jahr 2003. Nassauers Buch taucht nur ein einziges Mal auf, ganz kurz, nur als Titel im Gesamtverzeichnis aller im Diogenes-Verlag erschienenen Bücher – sonst nirgends, während andere Verlagsautoren teils SEITENlang behandelt werden. – Es scheint: Der Verkauf des Buchs und die auf dem Bucheinband zitierten englischsprachigen vollmundigen Rezensionen veranlassten den Verleger nicht zu einer ZWEITauflage oder zur Herausgabe WEITERER Bücher des Autors – falls er welche schrieb. – Und dabei erklangen aus dem ENGLISCHEN Sprachraum solche Lobeserhebungen!

Das Deckblatt der Diogenes-Ausgabe teilt ein bisschen etwas zur Person des Autors mit, etwas, das mich noch neugieriger macht. Da steht: Der Autor wurde 1924 in Frankfurt am Main geboren, erlebte die „Kristallnacht" mit und flieht im Jahr darauf mit den Eltern nach England. – Aber leider finde ich da keine weitere Angaben über den schulischen und beruflichen Werdegang des Autors; die Angaben auf dem Deckblatt betreffen Ereignisse, die zum Zeitpunkt der deutschsprachigen Veröffentlichung des Buchs immerhin 25 Jahre zurücklagen. Ist inzwischen nichts weiteres vom Autor zu berichten??

Leider erweist sich auch das Internet für meine Anfrage wenig ergiebig.

Über Nassauer selbst findet sich (2005, als ich diese Recherche unternehme) nur dies, dass drei weitere von ihm verfasste Bücher in den folgenden Jahrzehnten erschienen; dass er eine aus Portugal stammende, in England lebende Künstlerin förderte und dann als Todesjahr die Alternativen „1996" und „1997". -

Die im Internet auffindbaren „Obituaries“ über FRAU Nassauer aus englischsprachigen Zeitungen verraten mir dann doch auch etwas über ihren früheren Ehemann Rudolf.

Im Oktober 2004 starb die in England (nicht in Deutschland) recht bekannte englische (oder walisische oder walisisch-jüdische) ERSTE Ehefrau Rudolf Nassauers, die Schriftstellerin Bernice Rubens, die zwei Jahrzehnte lang mit R. Nassauer verheiratet war. Zwei im Internet abrufbare „Obituaries" nach Bernices Tod erwähnen die unglücklich endende Ehe mit Rudolf Nassauer. Das Ende dieser Ehe lag zum Zeitpunkt des Todes der einstigen Ehefrau schon zwei Jahrzehnte zurück. Bernice behielt für den Passport den Namen des früheren Ehemannes, also Nassauer, als Autorin hingegen trat sie unter ihrem Geburtsnamen Rubens auf.

Die Nachrufe auf Bernice Rubens berichten von über zwanzig Romanen; im angelsächsischen Raum wurden mehrere preisgekrönt; Fazit: Die Schriftstellerin war sehr produktiv und weit produktiver als ihr einstiger Ehemann. Zudem war B. Rubens eine - ebenfalls preisgekrönte - Dokumentarfilmerin und einige Zeit Vizepräsidentin des englischen PEN-Clubs.

Ich füge hier einige Lesefrüchte über Bernice Nassauer an.

 

Wunderkinder habens nicht immer leicht

Bernice kam 1928 in Cardiff zur Welt. Ihr Vater war ein aus Litauen geflüchteter jüdischer Litauer, der eigentlich von Hamburg aus per Schiff in die USA weiterreisen wollte, aber dann in Cardiff, der Hauptstadt von Südwales, gewissermaßen strandete und sich und seine Familie dort in der Folge als Händler durchbrachte; die Mutter von Bernice war ebenfalls Emigrantin und stammte aus Polen.

Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor, von denen drei hauptberuflich Musiker wurden; einer der Söhne galt als (musikalisches) Wunderkind. Der Vater hatte aus seiner Heimat zwei Geigen mitgebracht; auf ihnen durften und sollten die Kinder musizieren.

Bernice wollte partout CELLO lernen. Aber ein solches Instrument war für die Eltern lange Zeit unerschwinglich; erst, als die Tochter 17 Jahre alt war, wurde ihr Wunsch erfüllt. Bernice lernte trotz dieses vergleichsweise späten Beginns so passabel spielen, dass sie jahrzehntelang mit ihren immerhin professionalisierten Geschwistern Quartett spielte und in mehreren Orchestern mitmusizierte. Sie selbst bezeichnete sich auf Nachfragen nach ihrem Beruf lieber als - erfolglose – MUSIKERIN denn als erfolgreiche SCHRIFTSTELLERIN, was sie ja war.

Ganz ohne elterlichen Druck scheint die musikalische Karriere aller Geschwister nicht verlaufen zu sein; Bernice Rubens befasst sich in mehr als einem Roman mit dem Thema früher, allzu strenger elterlicher Forderungen an die Kinder und mit den Problemen hochbegabter Kinder, die eisern trainiert werden; in einem ihrer Romane schildert Bernice Rubens, wie ein Kind noch im Mutterleib mitkriegt, was die Eltern mit ihm vorhaben, worauf der Fötus aufs Geborenwerden verzichtet. – Einer ihrer Brüder war ihr „der liebste Mensch" ihres Lebens, er starb einige Jahre vor ihr.
 

Beschneidung – ein „barbarischer Akt"

Rubens wuchs in einer orthodox-jüdischen Familie auf; auch die jüdische Gemeinde der Stadt Cardiff mit damals 600 Mitgliedern galt als streng orthodox. Die Autorin empfand (laut einem Interview) diese Umgebung als „erstickend". Sie selbst trennte sich weitgehend von den Riten ihrer Herkunftsreligion; dass ihre beiden Enkel (auf die sie sehr stolz war) NICHT beschnitten wurden, fand sie gut, weil sie den Akt für „barbarisch" hielt.

Trotz der Distanzierung von ihrer religiösen oder nationalen Herkunft sympathisierte sie mit ihrem Herkunftsvolk und auch mit dem Staat Israel, dessen Zukunft sie aufgrund der unguten Politik gegenüber den Palästinensern als bedroht ansah.

Als junge Frau studierte Bernice Rubens englische Literatur und unterrichtete einige Jahre an einer Universität, gab diesen Beruf dann aber ihrer beiden Töchter halber auf und begann, wie sie in einem Interview äußerte, eher zufällig mit dem Schreiben. Hätte sie nicht für ihren ersten Roman sofort einen Verlag und danach gute Kritiken gefunden, hätte sie gewiss etwas anderes getan, sagte sie in einem Interview.

Ihr Verhalten als MUTTER fand sie im Rückblick recht „medioker", als Großmutter hingegen mache sie sich weit besser; Großmuttersein „is the greatest joy of my life".

Die Romane von Bernice Rubens befassen sich meist mit innerfamiliären Konflikten, mit Krankheit, Einsamkeit, Trauer und auch mit schlimmen Taten wie Mord und Selbstmord – Kritiker-Urteilen zufolge schrieb sie auf eine trocken-humorvolle und spannende Art.

 

Zwei Romane wurden angeregt durch Konflikte auch in ihrer eigenen Familie – womit wir endlich wieder auf jenen HERRN Nassauer kommen, den die damals 19-Jährige als 24-jährigen geheiratet hatte. Der Ehemann zeugte nicht nur mit der Ehefrau Kinder, zwei an der Zahl, sondern EINES auch mit einer Nicht-Ehefrau. Bernice verließ daraufhin Rudolf nach 23 Jahren (mehr oder weniger offizieller) Gemeinsamkeit. - Es kam zur Scheidung.

Bernice Rubens verzichtete aus Wut über das, was sie als schlimme Demütigung empfand, auf Unterhaltszahlungen seitens ihres Mannes. Später soll es, heißt’s in einem der Nachrufe, zu einer Wiederannäherung der beiden einstigen Eheleute gekommen sein. – Einen dieser beiden erwähnten Romane nannte die Autorin Jahrzehnte später gute Psychotherapie, aber sonst keine Glanzleistung.

Zwei ihrer Romane wurden verfilmt: „I Sent a Letter to my Love" 1981 mit Simone Signoret und Jean Rochefort, 1988 „Madame Sousatzka" mit Shirley Mac Laine. – Ihr Roman „Mr. Wakefield’s Crusades" (1985) war die Vorlage für eine Fernseh-Filmserie.

 

Das letzte Buch, an dem sie arbeitete, war eine Autobiographie – der erste längere nicht-fiktionale Text aus ihrer Feder. Er erschien postum im Jahr 2005, im Jahr nach ihrem Tod, unter dem Titel: When I Grow Up (Als ich aufwuchs). In dieser Autobiographie zog B. Rubens sehr hart über ihre - erfolgreiche – Rivalin und zweite Ehefrau ihres früheren Ehemannes her. Man muss sagen: in der Wortwahl übel beleidigend. Als ihr besonders verhasst bezeichnete Rubens in diesen Memoiren auch den Nobelpreisträger Elias Canetti, mit dem sie und ihr Mann lange Zeit bekannt waren. Der Grund für diesen Hass wird in den Memoiren nicht klar, aber man kann darüber einiges nachlesen in ebenfalls 2005 erschienenen, dicken und als autoritativ geltenden Canetti-Biographie aus der Feder von Sven Hanuschek, Germanistik-Professor an der Uni München. Hier wird klar, dass Canetti den Ehemann Rudolf Nassauer beim Fremdgehn unterstützte…. Canetti war mit beiden Eheleuten lange Zeit bekannt, gar befreundet. Das erklärt vielleicht auch das überschwängliche Lob auf den Erstlingsroman Rudolf Nassauers aus der Feder Canettis.

 

In Deutschland sind bisher, wenn ich richtig liege, nur drei Romane von Bernice Rubens erschienen. Sie erhielten gute Kritiken: 1995 „Es geschah in einer Seitenstraße", 1997 „Das Wartespiel", 1999 „Ich, Dreyfus". - Im Jahr vor ihrem Tod kam die Autorin im Rahmen von deutsch-walisischen Schriftstellertagen zu einer Lesung nach Köln.

Als für sie wichtigste Schriftsteller nannte Rubens in einem Interview vor einigen Jahren J. M. Coetzee ( „alles von Coetzee"), „alles vom späten Philip Roth und alles vom frühen Saul Bellow".

 

Sie nahm in diesem Interview (und anscheinend auch sonst, in literarischen Fehden) kein Blatt vor den Mund und urteilte: „derzeitige englische Schriftsteller sind, verglichen" mit diesen Schriftstellern „Pygmäen".

Tja, warum von ihrem einstigen Ehemann Rudolf Nassauer und trotz der zitierten höchsten Lobeserhebungen für Nassauers Buch Nummer I nichts weiteres in der Schweiz oder Deutschland erschien, diese Frage ist nach wie vor unbeantwortet. Auch eine Nachfrage direkt bei „Diogenes" half nicht weiter.

 

Veit Feger

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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