So tief war die Distanzierung vom Dritten Reich nicht, wie der Autor uns glauben machen möchte
 

Gustav Moré, Verfluchte Uniform - Als wir jung und gläubig in eine verlogene Zukunft marschierten, Klemm & Oelschläger, Ulm 2002

 

Im September 2013 verlegte Gunter Demnig 17 "Stolpersteine" in der Stadt Vöhringen im Landkreis Neu-Ulm, zur Erinnerung an eine Familie von im Dritten Reich deportierten Sinti. In diesem Zusammenhang wurde in mehreren Zeitungen der autobiographische Roman  des in Vöhringen  aufgewachsenen Redakteurs  Gustav Moré, „Verfluchte Uniform“, zitiert. Moré, geboren 1925, im Jahr  der Deportation, 1943,  18 Jahre alt,  erzählt in diesem Buch von der Verbringung der  Sinti-Familie Eckstein zum  Bahnhof Vöhringen. Deren unfreiwillige Fahrt führte sie dann weiter nach Ulm und weiter in die NS-Vernichtungslager.

 

 Ich las in Presseberichten, die das  Moré-Buch im Zusammenhang mit der Stolperstein-Verlegung zitieren,  auch,  dass „hundert Vöhringer“ damals der angeblich im Städtchen beliebten Familie das Geleit zum Bahnhof gaben. Ich wollte  gern MEHR von solch einem für NS-Verhältnisse ja nicht grad üblichen Vorgang wissen, beschaffte mir den Roman und suchte nach der entsprechenden Passage in dem 210-Seiten-Buch. Ich fand sie,  musste aber dann feststellen, dass zu diesem Thema kaum ein inhaltlich wichtiger Satz MEHR drin steht als vorstehend und in den Zeitungstexten erwähnt.

 

Dass Moré überhaupt auf dieses Thema zu sprechen kommt, verdankt sich, so bekennt er selbst, seiner Absicht,  darzulegen, dass "ich zwar ein Pimpfenführer, aber doch nie und nimmer ein bedenkenloser Fanatiker war" (S. 179 ff). Dass er kein bedenkenloser NS-Fanatiker gewesen sei, das  zeige sich daran, dass, wär es anders, ihn der Abtransport der Ecksteins "erheblich kälter gelassen" hätte als es  der Fall war.

Wann genau der Abtransport  war, wusste Moré bei der Niederschrift des Romans nicht mehr, er hat während des Textens  auch nicht nachgeforscht, er vermutet: "es muß wohl 1942 gewesen sein".  (Laut dem Ulmer NS-Opfer-Forscher  Dr. Walter Wuttke war der Abtransport im folgenden Jahr.)

 

Moré erzählt, er habe von jemand gehört, dass ein Abtransport bevorstehe; daraufhin sei er "schnurstracks zum Bahnhof geradelt". „Ich entsinne mich“, …. daß dort an die hundert Vöhringer Bürger in Gruppen, teils wortlos vor sich hin starrend, teils in kleinen Grüppchen diskutierend, den schwer verständlichen Vorgang  verfolgten. Ich sehe vor mir auch wieder Polizeimeister Pfitzer, den wenigstens körperlich imponierenden Leiter des örtlichen Gendarmeriepostens, den Tschako mit dem breitflügeligen Hoheitsadler  auf dem massigen Kopf, den ungestörten Ablauf des Abschiebeunternehmens mit betonter Diensteifrigkeit überwachend. Wohler als uns allen, so hatte ich allerdings den Eindruck, war es dabei auch dem uniformierten Vertreter der unerbittlichen Obrigkeit nicht."

Wie sich die Mitglieder der Familie ECKSTEIN in dieser Situation verhielten, darüber schreibt Moré kein Sterbenswörtlein. Er merkt nur an, die Ecksteins seien "in der Gemeinde allgemein nicht ungern gesehen" gewesen. Woran er dieses „Nicht-ungern-gesehen-Sein“ gemerkt haben will, erzählt er nicht. 

 

Moré fährt fort: "Ich nehme an, dass wenigstens der amtierende Gendarm wusste, zumindest aber mehr Ahnung davon hatte, wohin die Reise der Zigeunerfamilien gehen sollte. Allgemein wurde nur getuschelt." – WAS  getuschelt wurde, erfahren wir von Moré erneut nicht. Erwähnt wird nur das "Gerücht", "die Ecksteins würden nach Galizien umgesiedelt, wo schließlich ja wohl auch ihre Wurzeln zu suchen wären. Richtig leid tat mir damals, wenn ich mich recht entsinne, eigentlich nur, daß ich nun wohl auch die beiden Ecksteinbuben Kurt und  Karl nicht mehr zu Gesicht bekommen würde, daß ich ihnen nicht einmal mehr die Hand hatte geben können." – WARUM  er das nicht konnte, erfahren wir ebenfalls nicht.

 

Moré erwähnt, dass die beiden Zigeunerjungen ihn  in den Wochen zuvor "immer wieder gebeten" hätten, "ja richtiggehend angefleht, sie in mein Fähnlein aufzunehmen." (Warum sie das taten, ist ihm kein weiteres Nachdenken wert). Der Bitte um Aufnahme habe  er dann  entsprochen, er sei dabei "über den Schatten einschlägiger Vorschriften gesprungen.“ - Welche Vorschriften das waren, erfahren wir nicht.  Diese "Vorschriften"  mussten aber, meint der Verfasser dieser Buchbesprechung, für  einen halbwegs intelligenten 18jährigen  nachvollziehbar machen,  dass jene Menschen nicht nur aus Gruppen wie der HJ ausgeschlossen waren (in die sonst alle andere Jugendlichen hineingedrängt wurden), sondern  dass sie auch auf noch intensivere Art  "ausgeschlossen" werden konnten. 

 

Erwähnt wird von Gustav Moré ein Onkel der beiden Jungen, Albert Eckstein, der als einziger der Großfamilie  das Dritte Reich überstand und dass "die Amerikaner" ihn "unmittelbar nach Kriegsende vorübergehend als kommissarischen örtlichen Polizeichef" einsetzten. -   WARUM Albert Eckstein  diesen Job aufgab oder verlor, erfahren wir von Moré nicht, aber wir lesen beispielsweise, dass Alberts Ehefrau "einheimisch" war (allem nach, muss der aufmerksame Leser folgern, „einheimisch“ im Gegensatz zu Albert).

Wir lesen des weiteren,  dass Albert "schon bald nach dem Krieg"  auf dem örtlichen Friedhof "eine symbolische Grabstätte zum Gedenken an seine Angehörigen angelegt" hat. (Wie in Deutschland nach dem Dritten Reich üblich, wird immer "nach dem Krieg" formuliert, äußerst selten oder  nie "nach dem Dritten Reich").

 In seinem geschwätzigen, pompigen Stil merkt Moré zu dem Grab der Familie Eckstein auf dem Vöhringer Friedhof an:  "Der Alltag rauscht von jeher und noch immer mit gelassener Selbstverständlichkeit daran vorbei, so als stünde da auf einem unauffälligen bayerisch-schwäbischen Friedhof nicht ein wirkliches, seltenes, wenn nicht sogar einmaliges Mahnmal an den Holocaust in deutsche Vernichtungslagern." 

 

Nach einigen weiteren eher lyrischen Sätzen kehrt Moré zu dem zurück, was er sein  "eigentliches Thema" nennt,  nämlich die bitteren und komischen Erlebnisse eines bei Kriegsende aus Frankreich Richtung Heimat wandernden Landsers.

 

Außer der ausführlichen Schilderung der Herkunft seiner Vorfahren, der Schilderung von Erlebnissen des Kindes, Jugendlichen und jungen Soldaten Gustav oder Gustl erfahren wir aus dem Buch nicht viel über das Leben des bald nach Abschluss seines Buchs verstorbenen Redakteurs. Moré  zitiert in dem Buch einen Brief, den er 1996 im Zusammenhang mit dem Gedanken, diese Erinnerungen niederzuschreiben,  an einen einstigen Kriegskameraden schrieb; er erwähnt dabei, dass er nach der „Entlassung Juli 1945 in Meldorf / Schleswig-Holstein“ in seiner Heimat das Abitur nachholte, die Journalistenschule in München besuchte, dann Redakteur in Ulm wurde („Lokales und Chefredaktion“) und 1989 in den Ruhestand trat. Dass er eine  Reihe von Jahren VOR seiner Tätigkeit in Ulm der zuständige Lokalredakteur der „Ulmer Donauzeitung“ (später Südwestpresse Ulm) in der von Ulm 25 Kilometer entfernten Stadt EHINGEN war und sogar einen Heimatroman über Ehingen verfasste, übergeht Moré.

 

Der Verfasser  betont in dem Buch mehrfach seine „radikal kritische  Einstellung“ gegenüber Militarismus (u.a. S. 194); er betitelt ja seine Erinnerungen sogar mit einer  Verknüpfung der Worte  „Uniform“ und „verflucht“. Diese Abneigung gegen Militärisches   hat ihn  1972 nicht daran gehindert, sich um einen Platz auf der Kandidatenliste der CDU für einen Sitz im Baden-Württembergischen Landtag zu bewerben; er wurde, wenn ich richtig verstand, nicht nominiert.  

 

Dafür, dass Morés  Abneigung gegen Militarismus nicht so wirklich tiefgreifend ernst gewesen sein kann,  wie er  wohl suggerieren möchte,  das zeigen die letzten Sätze seiner Erinnerungen; da warnt er zwar wieder vor „ideologischer Uniformiertheit“ und vor „falschen patriotischen Wanderpredigern“, aber im gleichen Satz warnt er auch davor, „sich für extreme Formen zu nichts verpflichtenden Individualismusses begeistern zu lassen.“ (S. 212). - WO, frage ich mich, hat Moré einen Individualismus kennengelernt, der auch nur einen winzigen Bruchteil der Zahl an  Toten hervorgebracht hat wie die  NS-Herrschaft. Eine vergleichbare Zahl an Toten  würde es rechtfertigen, in einem Atemzug vor  Individualismus ebenso  zu warnen wie vor Nationalsozialismus. Die nationalsozialistische Indoktrination gegen Individualismus war wohl doch weit nachhaltiger, als es Moré gern gehabt hätte. - Diese nach wie vor Individualismus-kritische Haltung von Menschen, die sich in ihrer Jugend  mit dem Nationalsozialismus identifizierten,  ist mir in dem halben Jahrhundert nach 1945 häufig begegnet.

 

Für MICH  war an dem Buch interessant das andere Licht, in das eine einst regional gefeierte Vorgeschichtsforscherin getaucht wird. Moré erzählt über seine einstige  Gymnasiallehrerin,   Dr. Emma Pressmar, auf den Seiten 39ff drei  Details. Er beschreibt (?)  die spezifische Art, wie sich die Lehrerin im Klassenzimmer  vor die (wohl fast durchweg männlichen) Schüler hingesetzt habe (ich zitiere nicht).  Zweitens vergaß Moré nicht, „mit welch abgrundtiefer Verachtung in Stimme und Gebärde diese Dame uns damaligen Schülern gegenüber Polen und Russen, grob pauschalierend, wörtlich als ‚diese ostische Säue‘ abqualifiziert hat“. - Das dritte Detail: Moré trifft Dr. Pressmar  1948 auf einer internationalen Veranstaltung; die damals knapp Vierzigjährige  erzählte ihrem ehemaligen Schüler, sie sei grad auf dem Weg zu einem internationalen liberaldemokratischen Frauentreffen in Schweden; er, Moré, habe sie damals um die Lockerheit beneidet, mit der sie sich von ihrer einstigen NS-Orientierung ab- und neuen Ufern zuwandte.

 

 

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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