Literaturkritisches

Coelho, Elf Minuten   -  Eine Anhäufung von Unwahrscheinlichkeiten
 
Ein Freund schwärmt  von dem Roman „Elf Minuten“ des Brasilianers Paulo Coelho.
Begründen kann er  seine Begeisterung nicht, bittet mich aber dringend um meine Einschätzung.
Ich kauf  daraufhin ein Taschenbuch-Exemplar (bei Diogenes erschienen 2005).
Ich lese, notiere…   und bin  ab Seite 50 auf dem „Absprung“, zwinge mich aber, noch weiterzulesen, etwas „großzügiger“, ,   bis Seite 76.
Jetzt aber, Seite 76,   habe ich mich   so oft geärgert über völlig unwahrscheinliche Vorgänge und Schilderungen, dass ich mich nicht noch LÄNGER  zwinge, weiterzulesen.  Ich denke mir schon seit einiger Zeit: Meine Lebenszeit ist zu kurz und zu schade,  um mich mit unbefriedigenden Texten zu befassen.
 
Ich lege nun im einzelnen dar, was mich an Coelhos Roman befremdet, ja: teils sogar ärgert.
 
1. Coelho (oder sein  - nicht so befriedigender - Übersetzer) äußert Verallgemeinerungen, die ICH nicht als legitime Verallgemeinerungen akzeptieren mag. Anders formuliert: Mir wird eine „Message“ als eine selbstverständliche, jedermann einleuchtende verkauft, die ich für  - jedenfalls teilweise - FALSCH halte. Solche Aussagen werden so dargestellt, als ob das, was  - beispielsweise - die Hauptfigur Maria denkt, eben auch DAS  Richtige ist, DIE Wahrheit. Ein Beispiel S. 12: "Erneut stellte sie fest, dass die Liebe mehr mit der Abwesenheit als mit der Gegenwart der geliebten Person zu zun hatte." –  Ein sorgfältig arbeitender Autor könnte schreiben:  "Maria empfand, dass  ihre Sympathie-Empfindungen für den Geliebten während dessen Abwesenheit intensiver waren als während seiner Anwesenheit". Aber so, wie der Satz in dem Roman (vorausgesetzt, er ist richtig übersetzt)  formuliert wurde,  wird mir der Satz als eine ALLGEMEINgültige  Weisheit angedient. ICH aber will diese angebliche ALLGEMEINgültige Erkenntnis  NICHT als solche akzeptieren, für MICH ist das eine individuelle Ansicht des AUTORS, eine, die er  dann seiner Hauptfigur in den Mund schiebt und damit noch  SEINE Ansicht der Dinge überhöht. (Weiter unten noch ein weiteres Beispiel).
 
2. Der erste oder zweite Geliebte der jugendlichen Maria  wird von ihr überrascht, wie er mit Marias „bester Freundin" Händchen hält (S. 15). Maria ist enttäuscht über ihre Große Liebe. Aber eine solche Situation  lässt auch  fragen: Wie wurde das Verhalten der BESTEN FREUNDINN von der Hauptfigur Maria empfunden? Was lernte Maria  daraus  über Freundinnen? ICH hätt auch noch gern gewusst, was sie nun mit der Freundin macht und auch, wie sie sich gegenüber dem bisher Geliebten..... -  DAS erfahr ich aber alles NICHT,  d.h. ich wurde neugierig gemacht, aber dann wird mir eine Antwort vorenthalten. Da der  Autor bei Coelho aber ein Doktor Allwissend ist, wäre es keine Mühe für ihn gewesen,  meine Fragen (und ich vermute: auch eine Frage zahlreicher ANDERER Leser) zu beantworten.
 
3. Einerseits erfahren wir bei Gelegenheit,  dass der Maria im schulischen Religionsunterricht Selbstbefriedigung als Sünde bezeichnet wird (S. 18); in einer  Sekundarschule, d.h. einer Art Gymnasium,   in einem so katholischen Land wie Brasilien lag so etwas auch nahe. Trotzdem befriedigt sie sich  dann - laut Autor - locker und ungeniert S. 16. Sie masturbiert  auch vergnügt,  obwohl ihr Vater sie mal bei dieser  Selbstbefriedigung  ertappte und sogar SCHLUG und obwohl die Mutter um den gesamten Sex-Bereich einen Bogen macht, das heißt indirekt: diesen Lebensbereich verurteilt, verpönt. Die Mutter  erklärt der Tochter nicht, was die monatliche Monatsblutung ist, sie erzählt ihr nix übers Kinderkriegen, obwohl das zu jenem Zeitpunkt der ersten Monatsblutung  ja wirklich angebracht wäre und auch existentiell naheliegend. - Aus dem geschilderten Verhalten von Vater wie Mutter muss man folgern:  Die Eltern sind exzessiv verklemmt und sexualfeindlich. Und TROTZ all dem soll die Tochter sooo völlig unproblematisch Selbstbefriedigung ausüben können ?!- das ist  unplausibel. Es ist denkbar, aber sehr unwahrscheinlich.
Wenn Maria sogar eine höhere, eine „Sekundarschule“ besuchte, ist es eigentlich unwahrscheinlich,  dass sie trotzdem keine Fremdsprache kann, in welcher sie mit einem Schweizer (in diesem Roman) sich über eine Umsiedlung in die Schweiz plus dortige Berufstätigkeit hätte unterhalten können. Ein welschsprachiger Schweizer im Ausland beherrscht auf alle Fälle neben seinem muttersprachlichen Französisch  auch Englisch.
 
4. Maria stellt sich während einer  Selbstbefriedigung, jedenfalls bei der ZWEITEN Selbstbefriedigung S. 17, einen PARTNER  vor. Das bedeutet aber, dass sie Sex in genussvoller Form als ZWEIERvorgang imaginiert.  Da ist es sehr seltsam, dass sie dann nachher in der REALITÄT keinerlei lustvollen Zweiersex hinkriegt. So etwas ist  wenig wahrscheinlich. 
Es ist verbreitete  Meinung unter Sexualpsychologen, dass die größte Chance dafür , dass eine Frau später genussvollen ZWEIERsex ausüben kann, darin besteht, dass sie zuvor schon MASTURBIERT hat und zwar phantasiebegleitet masturbiert hat.   Nun stellt sich Maria bei der Selbstbefriedigung  nen eineutig lustvollen ZWEIERsex vor – aber  kriegt nachher in der REALITÄT trotzdem keinen lustvollen Zweiersex hin...... unplausibel!
 
5. Ebenfalls unwahrscheinlich  ist, dass Maria gleich nach diesen zwei jugendlichen Selbstbefriedigungsakten  mit ihren Freundinnen, von denen eine ihr die erste Große Liebe wegschnappte,  über eben dieses   Thema „Selbstbefriedigung“ spricht; es ist auch unwahrscheinlich,   dass sie selbst dieses Thema  losgtritt und ihre Freundinnen gar zu Bekenntnissen veranlasst.  Wenn man sich ihren familiären Hintergrund vergegenwärtigt, ist so viel Souveränität ganz unplausibel.   Erst recht unplausibel ist diese Offenheit, wenn Maria  ja erlebt hat, dass ihre BESTE Freundin ihr den Geliebten ausspannte. Zu erwarten wäre da, dass sie ab jetzt tiefstes  Misstrauen gegen ihre gleichaltrigen Freundinnen hegt und  nicht mehr mit ihren Freundinnen über ihr Intimstes spricht.
 
6. Völlig unwahrscheinlich ist auch, dass Maria zwar einerseits beschließt,  Nonne zu werden, dass sie aber andererseits, obwohl sie das Sex-Verbot der kath. Kirche kennt, mit großer Zufriedenheit  onaniert......
Eigentlich ist das alles eine irre Konstruktion. Sie widerstreitet  gängigen Ansichten von Psychologen (und auch meinen eigenen Ansichten).
 
7. Massive charakterliche Mängel der Hauptfigur werden nur knapp erwähnt,  etwa, dass sie den  ersten Freund, mit dem sie Sex hat, erpresst (Seite  20 - dabei will sie  Nonne werden!) oder  dass sie ihren ersten Chef im Bekleidungsladen ständig scharf macht und dann doch abblitzen lässt. Sie erweist sich da als Flittchen, als „Luder“, obwohl ihr der Autor in den Tagebuchnotizen ständig einen Heiligenschein umlegt.
Ihr Luder-Verhalten  und anderseits Marias  gedankenreiches, selbstkritisches Tagebuch  - das passt nicht zusammen.
Die  - laut Tagebuchnotizen – Männer-Verächterin sieht die Splitter in den Augen der Männer, aber den Balken im eigenen Auge nicht.
 
8. Wenn Maria  unter ihren Freundinnen einen Gesprächskreis  über Masturbieren INITIIEREN konnte, dann  ist es völlig verblüffend, dass sie plötzlich, wenn es um realen ZWEIERsex geht, darüber mit niemand sprechen kann, so jedenfalls  S. 21.
 
9. Ein Beispiel für jene Art "Messitsches", die mir sehr individuell und schlecht verallgemeinerbar vorkommmen, die mir aber der Autor als tolle Weisheit andient, lese ich  auf  S. 26: "Er sagte jene Worte, die - in welcher Sprache immer - wie die Glocken des Paradieses klingen: Job, Dollar!"
Von der Struktur der Geschichte her ist es nicht nötig, dass hier eine ALLGEMEINE Wahrheit unterstellt wird. Es genügt vollauf, wenn MARIA von Job und Dollars beeindruckt ist.
 
10. Die Tagebuch-Texte Marias (22  und anderswo) erscheinen mir, wenn ich mir diese junge Frau  in ihrem HANDELN  vergegenwärtige,  sehr unwahrscheinlich: Diese Texte sprechen  für eine souveräne, kluge, nachdenkliche Person, die aber jene  Maria des Romans in ihrem REALEN  Leben überhaupt nicht ist.
 
Hier eine solche  Tagebuchnotiz, die  zur  Unreflektiertheit der HANDELNDEN Maria nicht passt S. 33 ("Ich muss mir selbst treu sein." – Ich frage: Welche junge Frau Anfang 20, die für „Jobs und Dollars“ begeister ist,  redet  so ?) - oder S. 72 "Meine Ehre würde ich verlieren. Meine Würde" - Hier schreibt der AUTOR, aber nicht seine Hauptfigur; diese Tagebuchnotizen erscheinen mir extrem konstruiert.
 
11. Seite 52 kann die Hauptfigur sich nach einem Sprach-Kurzkurs plötzlich in gutem Französisch verständigen – das  ist  unplausibel, wenn sie vorher trotz Gymnasium so wenig Sprachen gelernt hat und sich gegenüber einem Welschschweizer am Strand von Copacabana  so hilflos aufführte.
 
12. Seite 63 wird erstmals (wenn ich nichts überlesen hab) Zweier-Sex relativ EXPLIZIT  beschrieben. Dabei vermute ich, ich betone: VERMUTE,  dass Maria  schon zuvor Zweier-Sex hatte, aber der Erzähler bleibt hier sehr unklar.  Diese explizit beschriebene  Sex-Szene  kommt recht  unvermittelt:  Nachdem MARIA  einst als Jugendliche so schrecklich schüchtern war mit ihren ersten Freunden, ist es  jetzt nicht sonderlich plausibel,  dass sie  - auch unter Alk  - locker die "Beine breit macht".
 
13. Weil  Maria  bisher in ihrem Leben beim Zweiersex keinen Orgasmus bekam, weil  sie des weiteren als schüchtern geschildert wird, weil sie des weiteren  dran dachte, Nonne zu werden, weil  sie aber raffiniert genug war, einen Mann einzuheizen und dann abzulehnen, weil sie ein allgemein SCHLECHTES Bild von Männern hat, ist es nicht sehr plausibel, dass sie es  (S. 73)   "schön fand, von einem Mann genommen   zu werden und zu spüren, wie er in sie eindrang." - Es läge sehr viel näher anzunehmen, dass sie einen Scheidenkrampf kriegt oder eine ganz trockene Scheide hat, verbunden mit Schmerzen, und dass sie den Mann sogar ABLEHNT....
 
14. Seite   76 "raucht sie eine Zigarette nach der anderen" - von dieser Eigentümlichkeit war auf den ganzen 75 Seiten zuvor nicht die Rede.
 
Auf Bitten des eingangs erwähnten Freundes lese ich ab einer späteren Seite nochmals weiter. Aber es geht mir nicht anders als auf den ersten siebzig Seiten.
Auf Seite  140 muss ich folgendes lesen: "Maria hatte plötzlich begriffen, welche Gefühle ein Mann und eine Frau brauchen" - Indes, der Autor verrät uns nicht ,was genau das für Gefühle sind. (Unter uns: Immer wieder hab ich die Empfindung: „Marlitt“, „Kitsch“)
 
Seite  143 "Maria starrte ins Feuer. Etwas war geschehen - aber es lag nicht am Wein oder der gemütlichen Atmosphäre. Es hing mit der Übergabe der Geschenke zusammen" -  Erneut  erfahr ich nicht, was nun wirklich geschehen war..
Gleich Seite: Maria predigt: Man muss etwas schenken, "was einem gehört".  - NEIN,  sag ich:  man soll schenken, was der andere, der zu Beschenkende, benötigt! Dass das zu Schenkende dem Schenker bis dato gehörte, das ist SELBSTVERSTÄNDLICH. Man kann , wenn man rechtlich handelt,  nur verschenken, was einem GEHÖRT;  nicht, was einem NICHT gehört.
 
Seite 154: "Keine andere Frau als sie hatte die notwendige Phantasie, um die Geschichte der Gegenwart neu zu erfinden"  - Der Autor nimmt den Mund extrem voll.  Das tut er auch  Seite  156: Dieser Mann "war anders als alle anderen".....................
(Wenn Maria oder der Mann solch seltene Exemplare wären, dann müsst uns   Coelho verraten, was an ihnen  so anders war - kommt aber nicht.)
 
S. 159 vermutlich eine Sado-Maso-Szene: "Knie nieder! sagte Terence.... Maria gehorchte. Sie war noch nie so behandelt worden, und sie wusste nicht, ob es gut oder schlecht war, nur, dass sie weitermachen wollte, es verdient hatte, erniedrigt zu werden für all das, was sie in ihrem Leben getan hatte." - Ich sehe da einen  Selbstwiderspruch in einem einzigen Satz, zuerst: "Sie wusste nicht,,ob es gut war" und dann: "sie hatte es verdient, erniedrigt zu werden."
Ich kenn mich mit Sadomaso nicht aus, aber ich vermute, dass der "Witz" bei Sado-Maso-Akten  nicht DER ist, ernsthaft zu büßen, sondern der, ein bestimmtes, erregendes  Theater aufzuführen. - Deshalb ist ja auch Rollentausch möglich, indem  der Sado zum Maso wird und umgekehrt.
 
Noch ein Widerspruch binnen weniger Zeilen, S. 163: Sie machte die Arbeit  "so professionell wie möglich" und... "so desinteressiert wie möglich".  – Ich versthe nicht, wie das gehen soll; für MEIN Empfinden kann jemand  eine Arbeit nur dann wirklich professionell machen, wenn er sich mit der Arbeit  identifiziert.
 
Seite 163: "Sie erkannte, dass sie imstande war, bedingungslos zu lieben und grundlos zu leiden"  Beide Verhaltensweisen werden  uns vom Autor als tolle Weisheit angedient, aber  beides ist meines Denkens sehr unbedacht. Ich meine: Man soll KEINESFALLS bedingungslos lieben, denn dann liebt man beispielsweise den Adolf Hitler so,  wie es die Eva Braun tat (statt ihn umzulegen; niemand hätte das so leicht bewerkstelligen können wie sie) , und auch "grundlos zu leiden" ist denkbar falsch, weil man dann im allgemeinen auch für das Leiden ANDERER mitverantwortlich wird.
 
Coelho bemüht für seine „Weisheiten“ (S. 179) sogar den  griechischen Philosophen Plato…..  Ich fürchte, der  würde sich bei Coelhos Texten im Grab rumdrehen.
 
Zufällig stoße ich bei der Suche nach Rezensionen von Coelho-Romanen im Internet auf einen Text des Redakteurs Volker Weidermann.  Er   bespricht  den 2013 erschienenen  Coelho-Roman „Die Schriften von Accra“ . Ich finde diese Rezension brilliant, empfehle sie sehr und verlinke sie daher:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/schon-wieder-ein-coelho-windmaschine-der-seligkeit-12022512.html

August 2013. Veit Feger

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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