Einige Stichworte zum Thema „Jüdisches, in Oberschwaben und drüber hinaus“

 2013, erneut gelesen 2020

Wie komme ich zu meinem Thema? Die folgenden Notizen entstanden ursprünglich, weil mich eine Künstlerin, Marlis Glaser, Attenweiler nahe Biberach, die auch zahlreiche Bilder mit „jüdischem Hintergrund“ malt, bat, zu einer Ausstellung ihrer Bilder im Raum Biberach über „Jüdisches und unsere Region“ zu sprechen. Ich hab diesen Text mehrmals im Lauf der Jahre überarbeitet und erweitert. – Es kommen auch einige wenige positive Aspekte des Themas „Judentum und Deutschland“ in den Blick.

Es freut mich nicht, dass ich hier nach einem üblichen Promi-Schema vorgehe: „bemerkenswerte Künstler, bemerkenswerter Wissenschaftler“ etc., obwohl es sicher viele andere vorbildliche Menschen gab und gibt, von denen wir KEINE solchen Besonderheiten kennen, die aber in ihrem alltäglichen Kreis Tapferkeit bewiesen, die Liebe und Güte schenkten, vielen Menschen halfen, sie fröhlicher machten. Nur: Diese Menschen sind uns leider NICHT oder zu wenig bekannt.

 Hilfreich bei der Suche nach besonderen jüdischen Menschen aus Oberschwaben und drum rum waren für mich unter anderen zwei Bücher, deren Autoren an bedeutende Töchter und Söhne jeweiliger Judengemeinden im Südwestdeutschen Raum (inclusive Bayerisch-Schwaben) erinnern. Da ist der evangelische Stuttgarter Kirchenrat Dr. Joachim Hahn und seine „Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg“ aus den 80er Jahren, inzwischen mittels der Website „Alemannia Judaica“ vielfältig erweitert, und ein Buch des einstigen Chefredakteurs der „Augsburger Allgemeinen“ Gernot Römer: „Schwäbische Juden - Leben und Leistungen aus zwei Jahrhunderten“, 1990 (mit „schwäbisch“ ist hier gemeint Bayerisch Schwaben). Kirchenrat Joachim Hahn betreibt seit Jahren die erwähnte, von ihm begründete und immens materialreiche Website „alemannia judaica“. Schauen Sie dort bitte rein! - Weil diese Notizen für einen Vortrag geschrieben wurden, musste ich eine Auswahl treffen.

 Ich gliedere meinen Vortrag nach Orten in Oberschwaben und ein wenig drüber hinaus, in einem Umkreis von etwa hundert Kilometern um Biberach. Die Überschreitung der Landesgrenzen Württemberg – Bayern hat ihren Grund darin: Diese uns Heutigen selbstverständlichen Grenzen gab es so vor zweihundert Jahren NICHT und erst recht gab es sie nicht für die mitteleuropäischen Juden früherer Jahrhunderte; jüdische Menschen bildeten eine vergleichsweise kleine Gruppe in der Bevölkerung; sie mussten Ehe- und Geschäftspartner und auch Gemeindebedienstete, etwa Rabbiner oder Vorsänger, oft in weit entfernten jüdischen Gemeinden suchen.

Im Mittelalter gab es jüdische Gemeinden in einzelnen größeren Städten unseres „Beritts“, in Ulm, in Memmingen, auch in einer vergleichsweise kleineren Stadt wie Ehingen an der Donau, aber nicht in einer ganzen Reihe anderer Städte der Region. Man kann verallgemeinernd sagen: Städte verdanken ihre im Vergleich zu Dörfern raschere Entwicklung nicht nur Prinzipien wie dem der Arbeitsteilung, sondern auch der KONKURRENZ zwischen Anbietern der selben Waren und Dienstleistungen. Aber kein Konkurrent am Markt konkurriert mit seinen Mitanbietern aus BEGEISTERUNG; Konkurrenten sähen es liebsten, sie könnten andere Konkurrenten AUSSCHALTEN. So lief das auch in den Städten mit jüdischen Gruppen: Die Mehrzahl der Händler waren Christen, eine Minderzahl Juden; in den meisten Städten versuchte das christliche Mehrheitsbürgertum, das jüdische Minderheitsbürgertum zu verdrängen (oder zumindest: zum Markt nicht zuzulassen), meist unter Zuhilfenahme religionsnaher Rechtfertigungen. Beiläufig: Eine nicht vorhergesehene Folge der Verdrängung jüdischer Konkurrenten war, dass gerade größere Städte im einstigen Römischen Reich Deutscher Nation, wenn die jüdischen Konkurrenten vertrieben oder vom Markt ausgeschlossen waren, nicht mehr profitierten von jüdischer Intelligenz und Aktivität. Juden wären für die Städte von Vorteil gewesen: Sie waren beispielsweise - im Unterschied zu anderen Bevölkerungsgruppen - durchweg alphabetisiert. Aber diese ihre Rolle als Händler und Financiers in den frühmittelalterlichen Städten Deutschlands durften sie bereits ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, spätestens etwa ab 1500 nicht mehr spielen. Ein Teil der aus den größeren Städten verjagten Juden überlebte in kleinen Städten, gar Dörfern im Umfeld der Städte, aus denen sie verjagt worden waren, weil die nahen Dörfer oder Städtchen im Besitz kleiner Adeliger oder Klöster waren und diese Juden als günstig schröpfbar erkannten; schon das Aufenthaltsrecht in den großen christlichen Städten hatten sich die jüdischen Menschen ja mit viel Geld erkaufen müssen. Ein Kranz von jüdischen Landgemeinden bildete sich daher um die großen Reichsstädte wie Ulm, Memmingen, Augsburg, Nürnberg, Rothenburg, Heilbronn, aus denen die Juden vertrieben worden waren. Eine ganze Reihe bis dahin kleiner Orte profitierte von diesem Zuwachs, etwa Laupheim.

Die Vertreibung von Juden aus größeren Städten ins Umland führte auch dazu, dass in dem auf halbem Weg zwischen Augsburg und Ulm liegenden schwäbisch-bayerischen Städtchen ICHENHAUSEN bei Günzburg bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine kleine jüdische Gemeinde bestand und dort ein Buch mit jüdischen Lettern gedruckt wurde, von jüdischen Verlegern und Druckern; der jüdische Buchdruck in Ichenhausen war einer der frühesten in Deutschland.

Stichwort „Druckerei“. Da muss man unbedingt das Reichsstädtchen ISNY im württembergischen Allgäu erwähnen. Dort kam es Mitte des 16. Jahrhunderts zu einer zwei Jahre währenden, ganz ungewöhnlichen Phase des Buchdrucks mit (zumindest teilweise) hebräischen Lettern; in Isny ging die Gründung dieser Druckerei nicht von jüdischen Menschen, sondern von einem Christen aus, anders als im Fall Ichenhausen. Aktiv war hier ein evangelischer Pfarrer und eins evangelischer Sponsor. In der oberschwäbischen Reichsstadt ISNY wurden zwischen 1540 und 1542 einige der ersten Bücher auf deutschem Boden mit HEBRÄISCHEN Lettern gedruckt und verlegt. Zugrunde lag dieser verlegerischen Arbeit die Zusammenarbeit zwischen zwei Angehörigen der sonst meist verfeindeten Religionen Christentum und Judentum: Der evangelische Isyner Pfarrer Paul Fagius, ein hervorragender Kenner des Hebräischen, war der Ansicht, dass zur Kenntnis des Neuen Testaments auch eine genaue Kenntnis der SPRACHE und SCHRIFT des ALTEN Testaments nötig sei; er gab eine ganze Reihe hebräischer Texte heraus und gewann für die Redaktionsarbeit den bedeutenden jüdischen Sprachforscher und Dichter Elias Levita. Dieser stammte zwar aus Neustadt an der Aisch, nahe Nürnberg, flüchtete aber als junger Mann, bereits vor der Wende zum 16. Jahrhundert, nach Italien, veröffentlichte dort unter anderem einen der ersten in Jiddisch verfassten Romane und kam dann als schon über siebzigjähriger Mann auf Bitten des Pfarrers Fagius nach Deutschland zurück, eben nach Isny, um mit Fagius zusammen wichtige Texte zur hebräischen Sprachgeschichte und Lexikographie zu veröffentlichen.

Es müssen sich da zwei ungewöhnlich kluge und aufgeschlossene, vorurteilsfreie Menschen gefunden haben; an einigen Details lässt sich erkennen: Diese beiden Menschen schätzten sich gegenseitig.

Levita kehrte nach zwei Jahren in Isny und zwei weiteren Jahren in Konstanz (wohl vor allem aus Gründen des angenehmeren Klimas) wieder nach Italien zurück; Fagius erhielt einen Ruf an die englische Universität Cambridge, starb aber dort noch vor Amtsantritt im Alter von erst 45 Jahren. Weil ihn einige Jahre später die englische Königin Maria (mit dem Beinahmen Die Katholische) zum Ketzer erklären ließ, wurden seine Gebeine exhumiert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt, zusammen mit den Gebeinen des ebenfalls nach England berufenen, dort gestorbenen und dann exhumierten deutschen Reformators Martin Butzer. (Auf der Homepage der ev. Kirchengemeinde Isny findet sich ein gut lesbarer, informativer Aufsatz über Fagius und Levita).

Zum Bild: In einigen Isnyer Drucken findet sich das Druckerzeichen, das Fagius anfertigen ließ. Es zeigt eine Buche, weil Fagius seinen normalen deutschen Namen - wie damals häufig der Fall – latinisiert hatte; er hieß eigentlich „Büchlin“, also „kleine Buche, und seine Frau war eine geborene Buchbaum. Mit diesem Signet ener Buche und der Umschrift: „der gute Baum trägt gute Früchte“ in Latein, Griechisch und Hebräisch schmückte der Herausgeber Fagius im Isny des 16. Jahrhunderts seine Veröffentlichungen, Bücher, für die er mit dem Juden Elias Levita zusammengearbeitet hatte (Näheres: http://www.isny-evangelisch.de/cms/startseite/paul-fagius-i/paul-fagius-ii/

17 Kilometer nördlich von Isny liegt eine andere (einstige Freie Reichs-)Stadt, LEUTKIRCH. Auch dort gab es keine jüdische Gemeinde und erst ab Ende des 19. Jahrhunderts einige wenige jüdische Familien. Geschäftlich besonders erfolgreich war die aus Polen zugewandere Familie Gollowitsch, die es binnen einer Generation zum Eigentümer des größten Kaufhauses nicht nur der Stadt, sondern auch der weiteren Umgebung brachte. Die meisten Mitglieder dieser Familie wurden im Dritten Reich ermordet. Jahrzehntelang wollte danach niemand etwas von diesem „Drama“ wissen. Erst in den Achtziger Jahren wurde am einstigen Haus Gollowitsch eine Gedenktafel angebracht. Eine größere Veröffentlichung folgte in den Neunzigern. Im Jahr 2012 wurden „Stolpersteine“ vor dem einstigen Haus der Familie verlegt, und im Jahr 2013 erinnerte eine große Ausstellung mit Holzplastiken des englischen, polnisch-stämmigen Künstlers Robert Koenig mitten in der Stadt an die Familie Gollowitsch und das mörderische Unrecht, das ihr und einer „arischen“, aber behinderten Frau aus der Nachbarschaft des Hauses Gollowitsch angetan wurde. Stichwort „Odyssey“: http://www.leutkirch.de/411?id=1175

In der Reichsstadt BIBERACH gab es jüdische Bürger erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts; laut dem Verantwortlichen von Alemannia Judaica, Joachim Hahn, wurden in Biberach im Jahr 1933 grade mal drei Geschäfte im Eigentum jüdischer Deutscher gezählt.

Zeitweilig sehr anders verhielt es sich mit dem Stichwort „jüdische Bewohner“ in der früher zu Habsburg gehörigen Stadt EHINGEN, 25 Kilometer nördlich von Biberach. Da gab es im Mittelalter - bis zu den allfälligen Vertreibungen im 14. und nochmals im 15. Jahrhundert - eine jüdische Gemeinde mit Synagoge, Schule und eigenem Friedhof. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte man bei einer Sanierung der zentralen katholischen Kirche St. Blasius in deren Fundament-Bereich jüdische Grabsteine, Steine von den Gräbern einstiger jüdischer Bewohner der Stadt. Zu der Zeit, als man diese Steine entdeckte, waren sie mit die ältesten in Württemberg bekannten jüdischen Grabsteine überhaupt. Sie wurden im städtischen Museum aufbewahrt und NACH dem Dritten Reich, in den 50er Jahren, auf einer städtischen Müllkippe entsorgt. - Das erste Mal in meinem Leben sah ich FOTOS dieser Grabsteine im Jahr 1966 in einer Veröffentlichung des israelitischen Landesverbandes Württemberg, ein Buch, das ich mir damals in der Frankfurter Uni-Bibliothek auslieh. In Ehingen selbst gab es zu diesem Zeitpunkt keine Publikation, in der man diese ungewöhnlichen Zeugnisse jüdischer Ehinger Geschichte wenigstens als FOTO hätte sehen können (Der Verfasser der sehr umfangreichen Ehinger Stadtgeschichte, der einstige Griesinger kath. Pfarrer Franz Michael Weber, erwähnt in dieser Stadtgeschichte die Existenz von Juden in der Stadt, übergeht aber das Thema „Grabsteine“ fast ganz und verwendet für seine Darstellung, an der er schon während des Tausendjährigen Reichs arbeitete und die Anfang der Fünfziger Jahre erschien, ohne jedes Zögern den im Dritten Reich klar antisemitisch gemeinten Ausdruck „Judenfrage“ - siehe dazu auf dieser Website meine Kritik an der Weberschen Stadtgeschichte http://veit-feger.homepage.t-online.de/stehing.htm.

Ehingen war hier herum nicht die einzige jüdische Gemeinde. In dem etwa auf halbem Weg zwischen Biberach und Ehingen liegenden Dörflein GRUNDSHEIM gab es im 17./18. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde. Ihre Existenz wurde im Jahr 1720 durch Vertreibung beendet. - Bisher gibt es meines Wissens nur eine einzige Veröffentlichung über diese Gemeinde, entstanden Ende der Dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, verfasst von einem katholischen Geistlichen aus der Region, dem Heimatforscher Pfarrer Theodor Selig, Unlingen, lange Zeit tätig in den benachbarten Orten Dietelhofen und Uigendorf. – Mit diesem Text verbindet MICH eine kleine Geschichte: Im Jahre 1984 half ich bei der Sortierung der Hausbibliothek des Ehinger Heimatmuseums. Dabei stieß ich auf ein unscheinbares Din-A-4-Heft von etwa dreißig Seiten, nicht das Original, sondern alles maschinenschriftliche Durchschläge (so was war damals das übliche billigste, wenn auch von der Zahl her sehr begrenzte Vervielfältigungsverfahren). Es war ein Heft, das, mein Eindruck, bis dahin niemand im Museum aufgefallen war – vielleicht sogar ein GLÜCK. Sonst wär es diesem Heftchen vielleicht genau so ergangen wie den oben erwähnten jüdischen Grabsteinen; es wär womöglich im Altpapier gelandet.

Erforscht und dargestellt war in diesem Heft die Geschichte der jüdischen Gemeinde Grundsheim von dem in der Region um den Bussen als Heimatforscher einst hochgeschätzten Pfarrer Theodor Selig. T. Selig schickte um die Wende zu den Vierziger Jahren einen seiner vielleicht drei Durchschläge an den damaligen Leiter des Ehinger Heimatmuseums, Studienrat Dr. Krieg, ebenfalls ein kath. Geistlicher, zudem Heimatforscher. Theodor Selig legte seinem nach Ehingen geschickten Exemplar eine Postkarte bei, die auch vierzig Jahre SPÄTER in jenem Heft lag, das mir beim Büchersortieren auffiel; eine Postkarte mit dem vielsagenden Satz, dass sich für das beiliegende Heft und sein Thema (eine jüdische Dorfgemeinde) derzeit hier herum niemand interessiere. (Man bedenke die Zeit und das Land… NS-Deutschland!) - Der Aufsatz dieses katholischen Geistlichen war gänzlich ohne den damals geläufigen antisemitischen Schaum-vorm-Mund verfasst – sehr ehrenwert für einen katholischen Geistlichen! Und im ganzen Duktus war diese Darstellung sehr anders als die EHINGER Heimatgeschichte des ja ebenfalls katholischen Pfarrers Franz Michael Weber.

Ich veröffentlichte damals diesen Museums-„Fund“ in mehreren Ausgaben der Ehinger Schwäbischen Zeitung auf mehreren ganzen Seiten. Diese Veröffentlichung wird auch in dem Standardwerk von Joachim Hahn über jüdische Gemeinden in Baden-Württemberg erwähnt und die Veröffentlichung in der Ehinger „Schwäbischen Zeitung“ sie dürfte bisher die einzige Publizierung geblieben sein.

Die größten und vergleichsweise längstbestehenden jüdischen Landgemeinden in Oberschwaben nach dem späten Mittelalter waren jene in Laupheim, Buchau und Buttenhausen (nahe Münsingen - wenn wir dieses Albdorf noch zu Oberschwaben zählen wollen).

Ich erwähne im folgenden einige durch wissenschaftliche, künstlerische oder andere Verdienste in Erinnerung gebliebene oder des Erinnerns werte Menschen aus diesen drei Orten und aus Ulm, wo im 19. Jahrhundert eine stattliche jüdische Gemeinde (nach dem späten Mittelalter erneut) entstand.

Bekanntlich verdankt die Stadt Laupheim ihr enormes Wachstum im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu einem guten Teil seinen jüdischen Bewohnern. - Infolge der Aufklärung und infolge des politischen Wandels im Gefolge der Eroberung Deutschlands durch Napoleon erhielten die jüdischen Bürger Deutschlands, also auch der Städtchen Buchau und Laupheim, im 19. Jahrhundert in mehreren Schritten mehr Bürgerrechte und damit auch mehr Handlungschancen.

Zwei bekannt gewordene Aufsteiger aus der Landjudengemeinde LAUPHEIM seien hier erwähnt. Der eine war Carl Lämmle (1867-1939), der Mitbegründer der Filmstudios von Hollywood und in den 20er Jahren, aufgrund seiner Stiftungen für die alte Heimat, zum Laupheimer Ehrenbürger ernannt. Was Lämmle für die Entwicklung des Films in den USA bedeutete, das bedeutete in gewissem Sinn der aus Laupheim hervorgegangene Bankier und Literaturförderer Kilian Steiner (1833-1903) für das deutsche Bankwesen und für die Erhaltung und Präsentation literarisch bedeutsamer Texte: Kilian Steiner spielte eine große Rolle bei der Entstehung des Schiller-Nationalmuseums, des heutigen Literaturarchivs Marbach. - Bedeutende Söhne der jüdischen Gemeinde Laupheim vor dem Dritten Reich waren auch der Kunstgewerbe-Professor Friedrich Adler (umgebracht in Auschwitz) und der Komponist Moritz Henle (1850-1925). Eine Tochter jenes Hamburger Kunsthochschulprofessors Friedrich Adler überlebte in Israel und wurde als Höchstbetagte von der Attenweiler Künstlerin Marlis Glaser portraitiert.

Mehrere Angehörige der Laupheimer jüdischen Familie Steiner zeigten und zeigen eine bemerkenswerte Anhänglichkeit an Oberschwaben, indem sie sich noch immer auf einem der Familie gehörenden Waldfriedhof nahe OBERDISCHINGEN beerdigen lassen, obwohl sie und ihre Angehörigen inzwischen in Stuttgart, der Schweiz oder anderswo beheimatet sind. Vielleicht wollten sie als gewesene Juden nicht unbedingt auf einem christlichen Friedhof bestattet sein, auf einem JÜDISCHEN Friedhof war es ihnen vielleicht versagt. Im Wald oberhalb von Oberdischingen ließen Mitglieder der Familie Steiner diesen Privatfriedhof anlegen, in dem etwa zwei Dutzend Angehörige beerdigt sind, unter ihnen auch der oben bereits erwähnte Bankier und Literatur-Sponsor Kilian Steiner, der vom württembergischen König in den Adelsstand erhoben worden war. - Durch ihre Lage im Wald, unter Bäumen, wirken die Gräber gar nicht angeberisch, anders als viele Gräber gleicher Größe auf regulären Friedhöfen. Das unterschiedliche Repräsentationsverhalten auf christlichen und jüdischen Friedhöfen fällt auf.

Wenn wir auf diesem virtuellen Gang durch Oberschwaben grad in Oberdischingen sind, dann erinnern wir uns daran, dass ein Nachfahr des ersten bekannten weiblichen Bankiers auf deutschem Boden (und in dieser Position bisher vielleicht überhaupt die EINZIGE) zeitweilig das Oberdischinger Schlossgut besaß; dieser Schlossbesitzer war ein Mitglied der Hechinger und Stuttgarter Faktoren- und Bankiersfamilie Kaulla. So wie im nahen Laupheim Juden das Schloss der Adelsfamilie von Welden erwarben, so erwarb in Oberdischingen ein Abkömmling einer anderen jüdischen Bankiersfamilie das Schloss der Schenken von Castell. Diesen Käufen liegt jeweils zugrunde ein beachtlicher Aufstieg aus einer einstigen Paria-Gruppe, ein Aufstieg infolge Fleiß, Charakter, Geschick, vielleicht auch einer Portion Glück, ein Aufstieg, der dieser Bevölkerungsgruppe freilich eher Neid als Bewunderung eintrug.

Weiter nach Laupheim! Erwähnt seien hier noch: In Laupheim lebten Vorfahren des bedeutenden deutsch-israelischen Schriftstellers und Theologen Shalom Ben-Chorin (Marlis Glaser hat Shalom Ben-Chorin, seine Frau und seine Tochter portraitiert).

Kurz sei an eine zeitweilig prominente Jüdin aus Laupheim erinnert, die Sportlerin Gretel Bergmann. Trotz unguter Erinnerungen an die Olympiade 1936 in Berlin kam sie später, NACH 1945, mehrfach zu Besuchen in ihre Heimatstadt.

Noch zum Stichwort „Laupheim“. MICH hat am meisten das (Anfang der 80er Jahre als Buch erschienene) Tagebuch einer jüdischen Frau aus Laupheim berührt, einer Frau, die - wie viele ihrer Religions- und Herkunftsgenossen - von der deutschen Politik und auch von einigen ihrer Mitbürger gebeutelt wurde: Die Rede ist von Hertha Nathorff geb. Einstein, weitläufig verwandt mit dem in Ulm geborenen Physiker Albert Einstein, verwandt auch mit dem Musikwissenschaftler und Mozart-Biographen Alfred Einstein, geboren in München.

Frau Nathorff war die erste Frau in Deutschland, die es schaffte, Chefin einer Krankenhaus-Abteilung zu werden, im Rotkreuz-Krankenhaus Berlin. Die fristlose Entlassung von diesem Posten im Jahr 1933, Enteignung und die – lebensrettende - Flucht in die USA beendeten ihre Tätigkeit als deutsche Ärztin– und leider als Ärztin auch für den Rest ihres Lebens. - Hertha Nathorff hat während des Zeitraums 1933/45 ein Tagebuch verfasst, das der Zeithistoriker Wolfgang Benz noch zu Lebzeiten der Ex-Laupheimerin, im Jahre 1987, herausgab und das später auch als Taschenbuch erschien. Zum Inhalt. In deutsch-bildungsbürgerlicher Manier hat Hertha Nathorff nicht nur Prosa geschrieben, sondern auch Gedichte verfasst; in ihr Tagebuch sind mehrfach Gedichte eingestreut, ich zitiere eines, das zu Silvester 1933 entstand (S. 52 meiner Ausgabe)

Ich habe niemanden Leids getan

Und war nie wissentlich schlecht.

Warum packt das Leben so grausam mich an?

Wofür sich’s an mir nur rächt?

 

Ich habe jedem sein Brot gegönnt

Und gern im Erfolge gelassen.

Warum nur bin ich auf einmal verpönt,

Darf dieser und jener mich hassen?

 

Ich hab einem Jeden nur Liebe gegeben,

verstehen und Hilfe in Not.

Warum muss ich so viel Leid erleben,

mich martern lassen zu Tod?

 

Ich war in der Arbeit beglückt und zufrieden.

Ich tat sie aus Lieb, nicht aus Pflicht.

Warum nur werd ich auf einmal gemieden,

taug weiter zur Ärztin ich nicht?

 

Ach, wüsstet ihr, wie weh das tut,

wie das im Herzen brennt,

mit heißer, versengender Glut.

Das nimmt kein gutes End’.

Im Laupheimer Museum (und inzwischen auch bei Youtube) kann man das Video eines Interviews sehen, das mit der über neunzigjährigen Herta Nathorff kurz vor ihrem Tod in ihrer New Yorker Dachkammer geführt und gefilmt wurde. Ihr Ehemann war schon lange tot, ihr einziger Sohn war einige Jahre zuvor gestorben. Dieses gefilmte Interview zeigt ein altes, verhutzeltes, niedergedrücktes Weiblein, das von seiner Kindheit und Jugend in dem wunderschönen Städtchen Laupheim schwärmt, herzzerreißend SCHWÄRMT. Wir sehen hier eine Frau, die die bitteren Erfahrungen der 30er Jahre in Laupheim vergessen oder verdrängt hat, Erfahrungen, die sie in ihrem „Tagebuch“ erwähnt (beispielsweise, dass Laupheimer, die sie von früher her gut kannten, ihr ab NS-eit plötzlich auf der Straße auswichen und die Straßenseite wechselten, als Hertha in den Dreißiger Jahren besuchsweise in ihre alte Heimat kam).

ULM. Hier bestand im späten Mittelalter eine bedeutende jüdische Gemeinde – und ihr erging es wie anderen solchen Gemeinden, die Mitglieder wurden expropriiert und verjagt. Erst um die Wende zum dritten Jahrtausend entdeckte ein Ulmer ein interessantes Detail dieser jüdischen Geschichte der Stadt: Ein Grabstein für den ersten Finanzchef des Münsterbaus, im Münster aufgestellt, war ihm aufgefallen. Christof Maihofer (heute Werneke) schaute sich diesen Stein näher an und stellte fest, dass der Grabstein eigentlich zunächst einem jüdischen Bürger der Stadt gewidmet war, entsprechend der Größe und Art der Behauenheit sicher einem der wohlhabendsten der mittelalterlichen Gemeinde, und dass dieser Stein vermutlich nach einer der Judenvertreibungen vom jüdischen Friedhof genommen und die Rückseite für den christlichen Kaufmann und Münsterbau-Finanzier verwendet wurde.

Im 19. Jahrhundert entstand in Ulm eine stattliche Gemeinde, die sich auch eine schöne Synagoge leisten konnte. Bedeutende jüdische Söhne der Stadt gibt es eine Reihe. Wir erwähnen hier zwei drei Personen, die (teils über Nachfahren) bis in die Gegenwart erinnerbar bleiben. Da ist die Familie Fried, aus der ein Chef der örtlichen Tageszeitung und bedeutender Kunstsammler hervorging. Dessen Tochter wurde Schriftstellerin – erfolgreich – und hat die Geschichte ihrer Großeltern, die ein Schuhhaus führten, aufgearbeitet, in einem Buch, das einige Jahre lang in Deutschland ein Bestseller war (Amelie Fried: Schuhhaus Pallas). - Die Dokumentationszentrale im einstigen KZ Oberer Kuhberg hat mehrere Bücher von und mit jüdischen Ulmern veröffentlicht, darunter die Erinnerungen des als junger Mann nach Israel geflüchteten Hans Lebrecht (dazu eine Besprechung seiner Erinnerungen auf dieser Website: http://veit-feger.homepage.t-online.de/lebrecht.htm). Nicht aus Ulm stammend, aber dort tätig war der erste Direktor des Ulmer Museums, Julius Baum, der seinen Posten 1933 aufgeben musste und in der Schweiz überlebte; Baum hatte für das Museum zahlreiche Arbeiten von lebenden Künstlern erworben, die im Dritten Reich als „entartet“ gebrandmarkt wurden. Aus Neu-Ulm stammte der Künstler Richard Liebermann (1900-1966), der das Dritte Reich in Südfrankreich überleben konnte und erst lange nach dem Dritten Reich und seinem Tod „wiederentdeckt“ wurde…...

„BAD BUCHAU“. Dass die Eltern Albert Einsteins von hier stammen, ist bekannt. Hier wie in Ichenhausen oder Laupheim waren die bedeutendsten örtlichen Betriebe mit den meisten Arbeitsplätzen in einer damals ja nicht von Überbeschäftigung gesegneten Zeit von jüdischen Bürgern der Stadt aufgebaut worden (die Buchauer Trikotagenfabrik Moos zählte zeitweilig 450 Arbeitsplätze). Ein aus Buchau stammender Max Einstein, 1822 – 1906, brachte es als Emigrant im Amerikanischen Bürgerkrieg bis zum Rang eines Generals. Paul Moos (1863 – 1952) war ein bedeutender musiktheoretischer Schriftsteller. Aus der jüdischen Gemeinde Kappel, direkt neben Buchau gelegen, stammte M. H. Landauer (1808 – 1841), ein sehr früher Forscher auf dem Gebiet der jüdischen Geheimlehre „Kabbala“.

Machen wir einige größere Schritte, Richtung Bodensee. Da kommen wir an RAVENSBURG vorbei. Von dort stammte ein jüdischer Mann, den zahlreiche Deutsche, die NACH 1945 den nordisraelischen Moshav „Schave Zion“ besuchten, kennenlernen konnten, Pinchas Erlanger. Erlanger führte durch diese von Rexinger Juden gegründete genossenschaftlich organisierte Siedlung hunderte, wenn nicht tausende Israel-Besucher (unter anderem auch mich). In Ravensburg gab es tapfere Menschen, die sich dafür einsetzten, dass für Pinchas und seine Familie sogenannte Stolpersteine gelegt werden; das war 2006/7, SIEBZIG Jahre NACH der Flucht der Familie Erlanger. Die Attenweiler Künstlerin Marlis Glaser hat Pinchas und Mitglieder seiner Familie portraitiert.

Kurz ins nahe MEERSBURG: Von dort stammt zwar nicht, aber dort fand vierzehn Jahren lang der bedeutende jüdischstämmige Sprachforscher, Sprachphilosoph und Dichter Fritz Mauthner (1849 – 1923) fast so etwas wie eine Heimat. - Mauthner war ein kritischer Geist und führte eine scharfe Feder. Ein Zitat gibt Mauthners Ansicht von der Schule seiner Zeit wider: "Die Buben und Mädel, die in den allergrößten Fabrikbetrieb des Staates geschickt werden, in die Schule, sind vorher wirklich lauter Individualitäten gewesen, so wie die Blumen und Gräser einer Wiese. Es ist kein natürlicher Grund vorhanden, all das blühende Leben von einer Mähmaschine zu Heu für Ochsen verwandeln zu lassen." - In Mauthners Häusle hoch überm Bodensee trafen sich um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert einige der interessantesten deutschen Intellektuellen, unter anderem auch Gustav Landauer, den ich noch kurz erwähnen werde.

Das Museum ÜBERLINGEN weist eine Reihe mittelalterlicher jüdischer Grabsteine auf; mit die ältesten in Baden-Württemberg erhaltenen; sonst ist von dieser einstigen Gemeinde nur noch wenig überliefert.

Noch ein Schritt ÜBER den Bodensee, bis in die kleine Gemeinde WANGEN auf der Höri-Halbinsel. Aus der dortigen einstmals großen jüdischen Gemeinde stammt ein liebenswürdiger Schriftsteller Jacob Picard, 1883 – 1967. Er schildert entzückend die alte Welt des Landjudentums am Bodensee – eine vergangene Welt. Ebenfalls aus diesem Dorf Wangen stammt LEO Picard (geboren 1900): in den 20er Jahren einer der ersten Geologie-Professoren der neugegründeten Universität Jerusalem und Erforscher der Geologie Palästinas.

Nun machen wir einen großen Sprung Richtung Norden, nach Hohenzollern, in ein Dorf in der Nähe von Sigmaringen und nach Hechingen.

Aus HECHINGEN stammte ein MITgründer der deutschen Kommunistischen Partei, der Rechtsanwalt Paul Levi, 1880 – 1930, ein von den Menschen, die ihn kannten, als überaus höflicher, taktvoller, feiner Mann geschilderter Mensch - alles, nur nicht das, was man – teils zu Recht, teils zu Unrecht – einen Proleten nennt und gern mit Kommunismus in EINEN Topf wirft. Paul Levi gründete zwar nach dem Ende des Wilhelminischen Reichs die deutsche KP mit und war kurze Zeit ihr Vorsitzender, aber wurde dann von eben dieser Partei ausgeschlossen. Am ehesten blieb er bis heute in Erinnerung als tapferer juristischer Verteidiger der Sozialistin Rosa Luxemburg; später erfuhr man, durch die Entdeckung von Briefen in den USA, dass Levi einige Zeit während des Ersten Weltkriegs nicht nur der Strafverteidiger, sondern ein enger persönlicher Freund von Rosa Luxemburg war. NACH dem Ersten Weltkrieg und der Ermordung Luxemburgs versuchte Levi, die Mörder dieser erstaunlich, menschlichen, hochgebildeten und tapferen jüdischgeborenen Frau zu ermitteln und sie vor Gericht zu bringen, Stichwort „Fall Jorns“. Levi führte damals einen der ungewöhnlichsten Prozesse der Weimarer Republik, einen Prozess, in dem Levi die Rechtslastigkeit dieser ersten Demokratie auf deutschem Boden deutlich machte.

In Hechingen wuchs auch der später Geheimdienstchef der DDR, Markus Wolf, auf. Man erhebt sich heute in Deutschland gern über die undemokratische DDR und ihre Knechte, aber man vergisst dabei meist, dass die Sowjetunion und auf dem Umweg über sie später die DDR ein Zufluchtsort für einige Juden war, auch für die Eltern des späteren Geheimdienstchefs Markus Wolf. – Der Vater von Markus Wolf war Arzt in Hechingen und zugleich einer der bekanntesten Dramatiker der 20er Jahre gewesen.

Zwischen Albstadt und Sigmaringen liegt das biedere katholische Dorf Benzingen. Hier war Camillo Brandhuber (1860–1931) katholischer Pfarrer. Der jüdischgebürtige Physik-Nobelpreisträger Albert Einstein kam zwischen 1917 und 1924 öfters ins Benzinger Pfarrhaus, weil er mit Brandhuber befreundet war. Brandhuber war preußischer Landtagsabgeordneter in Berlin und Präsident des hohenzollerischen Kommunallandtages gewesen; der Kontakt war wohl zustande gekommen über die Hechinger Verwandtschaft Albert Einsteins. Einsteins zweite Frau stammte aus der jüdischen Gemeinde Hechingen.

Auf dem Rückweg Richtung Oberschwaben schauen wir kurz in REUTLINGEN vorbei. Über die jüdischen Menschen, die 1933 in dieser Stadt gelebt hatten, erschien 2005 ein vorzügliches Buch, von den zwei damaligen Reutlinger Journalisten Bernd Serger und Karin-Anne Böttcher, Titel: „Es gab Juden in Reutlingen“. Es ist ein absolut empfehlenswertes Buch. Es ist - wie viele solche Untersuchungen über weite Strecken schrecklich zu lesen, aber zwischendurch auch mal unterhaltsam. - Ein großes Vertrauen in die Zahl potentieller Käufer hatte der Herausgeber dieses Buchs, das Reutlinger Stadtarchiv, nicht: Es wurden 1.200 Exemplare gedruckt.

Wir kommen zwischen dem Alb-Städchten Hayingen und dem großen Dorf Pfronstetten durch ein großes zusammenhängendes Waldgebiet, das einst zum Klosterstaat Zwiefalten gehörte. Dort befindet sich ein einstiger Kloster-Gutshof, heute ein Landschulheim der Diakonie, der sogenannte GEORGENHOF. Was wenig bekannt ist: Dieser Hof wurde um die Wende zu den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von der Berliner Bankier-Familie Mendelssohn erworben. Diese Familie, einst eine der berühmtesten jüdischen Familien in Deutschland, war zu jenem Zeitpunkt schon lang zum Christentum übergetreten und deshalb nicht im selben schlimmen Umfang wie ihre früheren Glaubensgenossen von der nazistischen Verfolgung betroffen. Aber dieser prominenten Familie mit einigen hochgebildeten und sehr tätigen Leuten schien es während des Dritten Reichs doch von Vorteil zu sein, sich aus der Großstadt in die hinterste Provinz zurückziehen. Ab 1939/40 hatte die Familie von Bankier Robert von Mendelssohn hier mitten auf der Schwäbischen Alb ihren festen Wohnsitz. NACH dem Dritten Reich verkaufte die Familie den Georgenhof und siedelte wieder in ihnen geläufigere Wohngegenden um.

Nicht weit ist es von hier nach TIGERFELD, in diesem Albdorf befand sich einige Zeit im Dritten Reich ein großes altes Gebäude, in dem jüdische Deutsche zwangsweise untergebracht waren, bevor sie endgültig ins KZ verschubt wurden (Hier besteht Forschungsbedarf).

Einige Kilometer weiter, im oberen Lautertal, liegt das Dorf BUTTENHAUSEN, seit den Siebziger Jahren ein Ortsteil der Stadt Münsingen. Aus der einstigen Buttenhauser Judengemeinde ging die bedeutende Münchner Kaufmannsfamilie Wertheim hervor. In Buttenhausen waren ihre Vorfahren kleine Händler gewesen, anfangs zu Fuß oder mit einem Wägele unterwegs; in München brachten sie es binnen einer Generation zu einer der reichsten Familien der Stadt. Anders als andere reichgewordene Händler bauten sie sich für ihre persönlichen Bedürfnisse nicht ein Schloss, sondern für die einstigen Buttenhauser Mitbürger ein schönes Schulhaus, eine Realschule für jüdische UND christliche Kinder. Das architektonisch gefällige, aber nicht protzige Gebäude fällt auch heute noch bei der Fahrt durch das Dorf auf und beherbergt heute ein kleines Museum zur jüdischen Geschichte des Orts.

In den 80er Jahren lud die Stadt Münsingen frühere Buttenhauser Juden in ihre einstige Heimat ein. Ich hatte damals das Glück, Lisl Löwenthal PERSÖNLICH kennenzulernen; sie war als Jugendliche aus Buttenhausen in die USA geflüchtet; ihre Eltern wurden im KZ ermordet. Ich hatte dieser Buttenhauserin Jahre zuvor eine Freude gemacht, als ich ihr Zeitungsanzeigen, die ihr Vater in den Zwanziger Jahren in der Ehinger Zeitung aufgegeben hatte, kopierte und schickte. Ihr Vater, Buttenhauser Pferdehändler, kam in den Zwanziger Jahre oft auf den bekannten Viehmarkt in Munderkingen. Die Anzeigen, mit denen er für diese Marktbesuche war, waren damals von meinem Großvater, Zeitungsverleger in Ehingen, veröffentlicht worden. Ich hatte das Glück, Frau Löwenthal einen Nachmittag ihres Deutschland-Aufenthalts lang in verschiedene Dörfer der weiteren Umgebung und auf mehrere Bauernhöfe zu chauffieren. Sie wollte die Elternhäuser jener schwäbischen Pferdeknechte besuchen, die einst im Buttenhauser Stall ihrer Eltern gearbeitet hatten; leider hatten wir kein Gück; wir konnten damals, fast fünfzig Jahre nach ihrer Buttenhauser Zeit, keinen dieser einstigen Knechte mehr auftun. - Lisl Löwenthal war damals von der Stadt Münsingen, wie andere ehemalige und überlebende Buttenhäuser Juden, in die alte Heimat eingeladen worden.

Wenn wir von Buttenhausen Richtung Reutlingen fahren, wo es bis 1933 einige Dutzend jüdischer Familien gab, fahren wir vor Urach die Seeburger Steige hinab nach SEEBURG.

In Seeburg, genauer: im Wald oberhalb Seeburg, können wir nochmals auf Spuren einer deutsch-jüdischen Bankiersfamilie in unserem Raum stoßen, Spuren der berühmten Hamburger Familie Warburg. Diese weitverzweigte Familie war, anders als die Berliner Mendelssohns, jüdisch geblieben. Das vormals adelige Landgut Uhenberg oberhalb Seeburg war von einem Mitglied der berühmten Hamburger und New Yorker Bankiers- und Wissenschaftlerdynastie Warburg im Jahr 1899 erworben worden, das war ein Warburg, der mit Bankwesen nix am Hut hatte und lieber „in Bauerschaft machte“. Eines seiner Kinder, Siegmund, 1902-1982, wurde - vielleicht sogar der Not gehorchend - wieder wie zahlreiche Vorfahren Bankier. Er war in diesem Beruf nach seiner Flucht aus Deutschland 1933 in London aus kleinen Anfängen heraus höchst erfolgreich, gab aber als älterer Mann Beruf und Firma wieder auf. Dieser Siegmund Warburg hatte als Jugendlicher das evangelische Gymnasium in Urach besucht; er hielt seine Bar-Mizwa-Ansprache auf LATEIN. „Siebzig Jahre später, kurz vor seinem Tod, wird er diese Ansprache immer noch auswendig können“, so jedenfalls sein französischer Biograph, der Politiker Jacques Attali in einer Biographie, die bald nach dem Tod Warburgs in den Achtzigerjahren erschien.

Nicht weit ist‘s von Buttenhausen in die einstige Oberamtsstadt RIEDLINGEN. Auch dort wanderten erst im 19. Jahrhundert jüdische Familien zu, vor allem aus Buttenhausen und Buchau. Über die Geschichte dieser Zuwanderer hat ein katholischer Religionslehrer aus Nordrhein-Westfalen, Christoph Knüppel, geforscht und eine ausgezeichnete Monographie vorgelegt. (Ein Bericht aus der örtlichen Tageszeitung plus Links siehe: http://www.alemannia-judaica.de/riedlingen-juedische-geschichte.htm). Der Riedlinger Textilhändler Ludwig Walz half Buttenhauser Juden während der NS-Verfolgungszeit, in einem Ausmaß, dass sich überlebende Buttenhauser dafür einsetzten, dass L. Walz von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde. - Marlis Glaser malte im Jahr 2019 ein Portrait von L. Walz, das vom Verfasser dieser Zeilen für den Sitzungssaal des Riedlinger Rathauses gestiftet wurde. Zur Übergabe dieses Portraits konnte ein eigens erstelltes Gruß-Video eines in New York lebenden Sohns des Buttenhauser Rabbiners Naphatli Berlinger zugeschaltet werden.

Machen wir noch einen Schlenker nach Nordosten, nach JEBENHAUSEN bei Göppingen (heute ein Teilort). Die dortige jüdische Gemeinde entstand wie die von Buttenhausen, weil die Adelsfamilie Liebenstein die Ansiedlung erlaubte (und sich das, wie so üblich, auch sehr gut bezahlen ließ). Der vielleicht bedeutendste Rabbiner der Gemeinde Jebenhausen, Aron Tänzer (1871-1937), war zunächst Rabbiner von Hohenems südlich Bregenz gewesen, bevor er nach Jebenhausen kam. Tänzer hat zahlreiche historische Abhandlungen verfasst (Eine Bibliographie, vor 20 Jahren in Vorarlberg erschienen, umfasst über hundert Titel). - Aus Jebenhausen stammt einer der berühmtesten deutschen Tenöre des 19. Jahrhunderts, Heinrich Sontheim (1820-1912). Um die Erforschung der jüdischen Gemeinde dort hat sich der Göppinger Stadtarchivar Karl-Heinz Rueß verdient gemacht (es stehen mehrere große Aufsätze von ihm zum Thema „Jebenhausen“ im „Netz“). („Sondheim“ ist der Nachname eines bedeutenden (jüdischstämmigen) Komponisten in den USA. Eine „Urheimat“ dieser jüdischen Menschen war sicher die jüdische Gemeinde Sontheim bei Heilbronn)

Nun blicken wir ins bayerische Schwaben. Infolge der Vertreibung von Juden aus Ulm und Augsburg im späten Mittelalter gab es dort zahlreiche jüdische Landgemeinden. Ein hochverdienter Erforscher ihrer Geschichte ist der frühere Augsburger Chefredakteur Gernot Römer. Er hat, wie oben erwähnt, eine große Zahl interessanter Biographien von bayerisch-schwäbischen Juden zusammengetragen unter dem Titel „Schwäbische Juden – Leben und Leistungen aus zwei Jahrhunderten“ Augsburg 1990. Gernot Römer erinnert an ungewöhnliche, sowohl einst prominente wie auch ganz „reguläre“ Menschen jüdischen Glaubens oder zumindest jüdischer Herkunft aus dem Raum Bayerisch Schwaben.

Ich wähle hier als Beispiel einen nicht auf Anhieb mit Judentum identifizierten Beruf aus, den des Antiquars. Wer aber einen Augenblick nachdenkt, weiß, dass es kaum eine Religion gibt, die einen so großen Respekt vor zumindest einem bestimmten Buch hat wie eben die JÜDISCHE Religion. Ausgebrauchte Heilige Bücher werden nicht vernichtet, sondern für immer aufgehoben; es gibt eigene Aufbewahrungsräume in Synagogen für diesen Zweck, Genizah genannt. Einer solchen Genizah in KAIRO verdankt die DEUTSCHE Literaturgeschichte die älteste Fassung eines ritterlich-deutschen Heldenlieds, von einem mittelalterlichen JÜDISCHEN Schreiber in HEBRÄISCHEN Buchstaben notiert. - Zurück zum Stichwort „Antiquar“: Einer der bedeutendsten deutschen Antiquare des 19. Jahrhunderts stammte aus FELLHEIM nördlich Memmingen und von ihm stammt eine bis heute, jetzt aber im Ausland, bestehende Antiquar-Dynastie ab, Rosenthal. Dadurch, dass Ludwig Rosenthal sein Antiquariat schon bald, Mitte des 19. Jahrhunderts, nach München verlegte, konnte diese Stadt später der deutschen Buch-Metropole Leipzig ihren Rang als zentraler deutscher Antiquariatsort streitig machen. Ludwig Rosenthal war von Anfang an sehr erfolgreich, indem er die nach 1800 im Zusammenhang mit der sogenannten Säkularisation verschleuderten Bücher der einstigen süddeutschen KLOSTERbibliotheken zu sammeln begann, Kataloge daraus zusammenstellte etc.

Auf halbem Weg zwischen Memmingen und Ulm, ebenfalls in Bayerisch-Schwaben, liegt ALTENSTADT. Auch hier durften über Jahrhunderte jüdischen Menschen wohnten - gegen ordentlich Tribut. Das englische Industrie-Imperium „General Electric Company“ und der Osram-Konzern wurden von Hugo Hirsch aus ALTENSTADT an der Iller zu ihrer Größe geführt; Hugo Hirsch war als 17jähriger nach England ausgewandert. Er anglisierte seinen Namen zu Hirst. Als er 1930 geadelt wird, beschäftigt seine Firma vierzigtausend Menschen. Firmengründer in England wurden auch Mitglieder der Familie Binswanger aus Osterberg im südlichen Kreis Neu-Ulm, sie nannten sich später Byng.

Aus HÜRBEN bei Krumbach in Bayerisch Schwaben (heute ein Stadtteil) stammt die Übersetzerin und Schriftstellerin Hedwig Lachmann, verheiratet mit dem religiösen Sozialisten, Philosophen und Schriftsteller Gustav Landauer, ermordet 1919 in München.

Erwähnt sei hier noch eine weitere Jüdin, die in der Bundesrepublik bekannt wurde: die Schauspielerin und langjährige Hamburger Theaterleiterin Ida Ehre; sie stammte aus einer jüdischen Dorfgemeinde bei Nördlingen.

Diese Reihe lässt sich beliebig fortsetzen….. (2013, 2020)

 

Veit Feger, Ehingen

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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