Jüdische Menschen, die ich kannte oder kenne

(Teil III, Dezember 2023)

In den vergangenen 15 Jahren habe ich zwei Mal Erinnerungen an jüdische Menschen, mit denen ich Umgang hatte (und die mich beeindruckten) notiert. Hier folgt eine dritte Sammlung solcher Erinnerungen: an die in Polen geborene, im Frühjahr 2023 in NewYork 89jährig gestorbene Lillian Gewirtzman, an den 1947  in den USA geborenen Richard Serkey und an die Mittfünfzigerin Gali Kahn Yerushalmi in Israel.

Lillian Gewirtzman (1934 - 2023)

An einen Freund der Verewigten in München schrieb ich im Frühjahr 23, nach deren Tod,  einen Gedenkbrief. Wesentlich waren  darin  zwei Texte: eine Art persönlicher Nachruf in Form einer Tagebuchnotiz, die ich nach der Todesnachricht (aus den USA) verfasste und an einige Bekannte mailte, und ein „Memorial“, bestehend aus drei Youtubes von  Kompositionen, die für Lillian wichtig waren. Dieses Memorial mailte ich an eine Tochter von Lillian in den USA, Rena Schwartzbaum, des weiteren an Frau Nieraad, Ulm (Leiterin des „Stadthauses“, die zusammen mit L. Gewirtzman ein Buch herausgegeben hatte) und an die Künstlerin Marlis Glaser, Attenweiler, der ich den Kontakt zu Lillian verdankte. 

Dass es der jetzt Verewigten (die ja schon lange Krebs hatte) im Frühjahr 23 sehr schlecht  ging, ergab sich aus einem Mail der Tochter Rena vom 25.2.23. Sie antwortete damals statt ihrer Mutter:   “Hi Veit, this is Rena, Lillian’s daughter. Lillian is quite ill. Her cancer has really progressed. My e-mail is schwa0887@gmail.com  I know how much she enjoys your friendship and the music you share with her.”  - Zur Erklärung: Ich hatte zuvor  an Lillians Mail-Adresse   (wie schon oft in den Jahren seit 2015) einen Musik-Vorschlag gemailt (meist einen Youtube-Link), mit einer Musik, die sie GERN hörte…. Lillian und ich, wir hatten in Sachen Musik (und oft  auch sonst) sehr ähnliche Empfindungen und Wertungen. Auch ich, Veit,  verehrte und verehre Lillians  Musik-Heroen, den Tenor Dietrich Fischer-Dieskau und den Liedkomponisten Franz Schubert.

Nach diesem  Lied-Link-Mail  kam  am 2. März 2023 von Rena folgende Nachricht:

„Dear Veit,  Lillian passed away early this morning. Thank you for bringing joy into her life. – Rena”
 

Hier meine Tagebuchnotiz nach dem Tod von LG

Todesnachricht aus NewYork.

Etwa sieben, acht  Jahre  stand ich in einem schönen, interessanten Mail-Wechsel mit einer 1934 in Ostpolen geborenen Frau (jüdischer Abkunft), Lilya Rajs, später, infolge Emigration in die USA und Heirat:  Lillian Gewirtzman. Eines unserer Lieblingsthemen war Musik, vor allem Gesangskunst, : Lillian war eine   Verehrerin des deutschen Tenors Dietrich Fischer-Dieskau. Ich machte der Lillian  immer eine Freude, wenn ich ihr ein Youtube mit einem von FiDi interpretierten Schubert-Lied mailte. Oft suchte ich  aus dem Internet den deutschen Urtext raus und – nach Möglichkeit – eine Übersetzung ins Englische. 

Lillian erzählte mir per Mail vieles  aus ihrem Leben, auch Details, bei denen sie nicht im familiären Main-Stream mitschwamm.

Für mich waren ihre Briefe  eine große Ehre: Lillian ihrerseits bedauerte mehrmals, dass wir nicht näher wohnten und uns leicht sehen und unterhalten  können.  

Unsere  wichtigsten direkten Begegnungen waren ein Ausflug mit  Lillian und meiner Frau Uli an den Bodensee (Chauffeur: VF) und eine Fahrt  nach Ulm: zu einem Besuch des Münsters, in dem Lillian  als zwölfjährige „Displaced Person“ (mit Wohnsitz in einer einstigen Ulmer Kaserne) bald  nach dem Ende des Dritten Reichs erstmals eine Orgel hörte; Lillian wusste noch, an welcher Säule im Kirchenschiff sie stand,  als die Münsterorgel zu ertönen begann.

An diesem Tag   im September 2015 brachte ich Lillian auch ins am Münsterplatz gelegene Ulmer „Stadthaus“. Dort hatte  dessen  Leiterin Carla Nieraad ein Treffen mit dem Ulmer Oberbürgermeister Ivo Gönner organisiert. Mit Gönner hatte Lillian  schon bei einem früheren Besuch  der Stadt  Ulm (so 2007) Kontakt; Anlass war die von Lillian mit-organisierte Ausstellung über jüdische Displaced Persons in Süddeutschland, u.a. auch in Ulm, nach dem NS-Reich.  OB Gönner stand  im Herbst 15  nur wenige Monate vor seinem Ruhestandsbeginn. Er  und Lillian unterhielten sich prächtig; ICH konnte entzückende Fotos von dieser Unterhaltung knipsen.

Ich kam jetzt, nach der Todesnachricht aus NewYork, auf den Gedanken, ein musikalisches „Memorial“ für Lillian zu verfassen. Ich wählte drei Musikstücke aus, von denen ich wusste, dass sie der Lillian sehr gefallen hatten: die  Interpretation eines US-Liedes durch die SCHWEIZER Gesangsgruppe „Öschs die Dritten“, eine schöne Gospel-Melodie, gespielt von dem großartigen (farbigen) Trompeter Wynton Marsalis (den LG seit Jahrzehnten kannte und verehrte), und das Lied „Du bist die Ruh“, gedichtet von Friedrich Rückert, komponiert von R. Schumann, gesungen von D. Fischer-Dieskau.“

Die vom Ulmer „Stadthaus“ verbreitete offizielle Todesnachricht,

die  in Medien des Raums Ulm abgedruckt wurde

 „Die in Polen als Liliya Rajs Geborene war eng mit Ulm verbunden. Mit zwölf war sie in das Displaced Persons Camp in die Sedanstraße nach Ulm gekommen, wo sie zwei Jahre lebte und prägende Erfahrungen machte. Zum heimlichen Zufluchtsort wurde dem Mädchen das Ulmer Münster - das zu betreten ihr als Jüdin von der Großmutter eigentlich verboten worden war. Sie berichtete später über ihre Erfahrungen mit dem Antisemitismus in Deutschland, doch Ulm blieb sie zeitlebens verbunden. 56 Jahre nach der Auswanderung mit ihrer Familie in die USA kehrte sie auf Einladung von Oberbürgermeister Ivo Gönner und dem „Arbeitskreis 27. Januar“ erstmals nach Ulm zurück und besuchte die Stadt noch ein weiteres Mal im Jahr 2015. Ihre Erinnerungen an Ulm hat sie eindrucksvoll beschrieben: ‚Lillian Gewirtzman und Karla Nieraad (Hg.) Nach dem Schweigen - Geschichten von Nachfahren - Mit Texten von Lillian Gewirtzman und elf amerikanischen Autorinnen und Autoren sowie elf deutschen, darunter Uly Foerster und Michael Moos, Inge Fried, Marlis Glaser, Dagmar Hub, Verena Hussong, Martin König, Karla Nieraad u.v.m. Verlag Klemm + Oelschläger, Ulm 2016‘- Seit 2015 sagte sie immer wieder: Ich habe Stalin überlebt, ich habe Hitler überlebt, ich werde auch den Krebs überleben. -  Noch sieben erfüllte und aktive Lebensjahre waren ihr beschieden.“

 

Aus Briefen  von Lillian,

in denen sie sich an ihre Begegnungen mit Ivo Gönner  erinnert:

 

During my second trip - to Ulm in 2005, I was ready to be more open. Ulm AGAIN embraced me. David and I drank many cups of coffee with young people we met in the street. I got to meet Mayor Gönner up close. Marlis and her two lovely boys introduced themselves to us. Karla was the ultimate breakthrough. Her clear-eyed  honesty in communication broke the last piece of ice. - Of course David and I were ready. (We had been teaching tolerance for almost 10 years, why not learn it?) - I also had personal contact with him. He and I both gave a speech at the exhibit opening in2007. - We each wound up crying. I have a copy of the press report, somewhere in my files. He is a very special person. I understand that in his position he has to be diplomat - and therefore a bit of a politician. But his heart is in the right place.

 

 Als ich der Lillian einige Monate später  erzählte, Gönner sei in den Ruhestand verabschiedet worden, antwortete sie: „I will probably get a report from Karla, who participated in all the parts of the event. I wish I could have been a mouse at the Muenster Cathedral for the event.

 

 Aus meinem Tagebuch Oktober 15

 

Am Mittwoch war ich tagsüber länger unterwegs: Ich holte  eine 81jährige Frau, Lillian Gewirtzman, New York,  in Attenweiler, 20 km südlich Ehingen, bei der Gastgeberin Marlis Glaser  ab  und fahre sie 60 km über Ehingen und Blaubeuren  nach Ulm und führe sie durch Ulm, vor allem zum Münster und zu einem Gespräch im Stadthaus neben dem Münster. – Lillian  lebte siebzig Jahre zuvor  in einer Ulmer Kaserne ials "Displaced Person"  (als jemand ohne festen Wohnsitz, ohne "Heimat", eben ein Flüchtling). Damals lebten über fünftausend nicht-deutsche Flüchtlinge in der zerbombten Stadt in den nicht mehr für NS-Soldaten benötigten Kasernen. - Lillian  wanderte 1951 in die USA aus. Sie besuchte 2007 München und Ulm,  um in Ulm eine Ausstellung über DP in Süddeutschland zu eröffnen, erneut kam sie 2015 nach Deutschland. Ich schickte ihr meine Tagebuchnotizen über diesen gemeinsamen Tag  2015. Ihre Antwort: „Ach Du Lieberman Gott!  You wrote an entire epic. You remembered everything I said. It is good that I did not tell you any of my dark secrets!”(Ach du lieber Gott, du hast ja einen ganzen Roman geschrieben. Du erinnerst dich an alles, was ich sagte. Es ist gut, dass ich nix von meinen DUNKLEN Geheimnissen erzählte.)

 

Wie  viele Deutsche auch  NACH 45 überzeugte NAZIS waren und sich entsprechend verhielten, das wurde mir u.a.  an einer Erzählung von L. Gewirtzman deutlich: Lillian  war in der zweiten Hälfte der Vierziger Jahre Schülerin in einem Münchner Gymnasium.  1948 war sie das einzige Mädchen in ihrer Klasse und die einzige Jüdin an der Schule. Der  Mathelehrer an diesem Gymnasium sagte zur ihr: "Wenn wir nicht so Pech gehabt hätten, würdest du jetzt im Aschenbecher liegen."  - Wohlgemerkt, er sagte das, nachdem „Dachau und Auschwitz“ bekannt geworden waren.........- Das tapfere Mädchen, damals etwa 14, ging zum Schulleiter und beklagte sich über diesen Lehrer. - Der Schulleiter pflichtete ihr bei, so eine Äußerung sei nicht  in Ordnung,  aber, sagte er ihr:  "Was soll ich machen, ich brauche einen Mathe-Lehrer, ich krieg keinen anderen, ich kann ihn also nicht suspendieren." - Das wars dann...

 

My memorial

 to the revered and beloved Lillian Gewirtzman

March 2023

this Lied of USA, "Blue Eyes",

 (in an svizzerian performance)

was Lillians most beloved version of "Blue Eyes"

https://www.youtube.com/watch?v=Bm3kxojYGyY

Oesch´s die Dritten - Blue Eyes crying in the Rain

Wynton Marsalis with his trumpet was most revered by Lillian

here with a wonderful christian tune,

Lillian will forgive me - Jesus was a Jew

Wynton Marsalis

https://www.youtube.com/watch?v=JqMvGtjyWSw

and then Dietrich Fischer-Dieskau

always revered by Lillian with a composition of Robert Schumann

Fischer-Dieskau, Du bist die Ruh

https://www.youtube.com/watch?v=SBRUJrjNJDE&t=33s

 

Einige Angaben zum Leben von Lillian und Quellen (weitere Literatur)

Lillians Vater war selbständiger Müller. Er hatte noch im Frühjahr 1939, wenige Monate, bevor deutsche Soldaten in Polen und sowjetische Soldaten in Ostpolen einmarschierten, neue d°e°u°t°s°c°h°e Mühlenmaschinen gekauft. Er bekam in jenem Sommer mit, dass ein polnischer Lehrjunge, den er freundlich aufgenommen hatte, äußerte: Er, der Pole werde bald die Mühle übernehmen.. Daraufhin sagte der Vater von Lilya zu seiner Familie: „Wir müsse hier fort.“  Und die Entscheidung, Richtung Sowjetunion zu fliehen, erwies sich als richtig, obwohl auch mit vielen Problemen verknüpft.

Lillians Vater muss ein stattlicher Mann gewesen sein; er konnte reiten, und das bewunderte seine Tochter später. - Lillians  Großvater mütterlicherseits war Rabbiner. Lilyas  Mutter war sehr gebildet; deutsche Literatur war in ihrem Elternhaus wohlbekannt.

Lilya hatte auch einen jüngeren Bruder, der als Kind polnisch „Srulek“ (Kleiner Israel) genannt wurde („Srulek“ war in den Fünfziger Jahren, im jungen Staat Israel, eine beliebte Comic-Figur, die sinnbildlich für das junge Israel stand). Die beiden Geschwister waren sich später eher fremd.

- Die kleine Lilya war in ihrer polnischen Heimatstadt das einzige Mädchen, das in den sonst nur von JUNGEN besuchten Religionskindergarten, den Cheder, gehen durfte (es existiert ein Foto von dieser Cheder-Klasse).

Mit fünf Jahren kam Lilya in die Sowjetunion. Sie lebte und überlebte mit den Eltern in verschiedenen Regionen der Sowjetunion.  Lilya  empfand rückblickend russische Menschen als überaus freundlich („sie teilten ihr letztes Stück Brot mit uns jüdischen Flüchtlingen“). Besonders freundlich empfand Lilya die Bewohner von Aserbeidschan, von wo aus die Familie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Europa weiterwanderte (Erster fester Wohnort war dann Ulm, eine frühere Kaserne der Wehrmacht).

 In der Sowjetunion begeisterte sich die  junge Lilya für eine von der Regierung gefeierte junge Heldin; später kam sie zu der Empfindung, dass ihre Begeisterungsfähigkeit missbraucht wurde.

Die DP-Familie Rajs (oder „Rejs“) wurde von Ulm an den Starnberger See verlegt. Von dort aus fuhr Lilya zu einem Gymnasium in München. Weil sie dort rasch Englisch lernte,  konnte sie an der folgenden Etappe der Familienwanderung, in den USA, der Familie sehr dienlich sein; sie konnte wegen ihrer Englischkenntnisse als erste Geld verdienen.

Lillians Ehemann und die große Liebe ihres Lebens wurde  der vier Jahre ältere David Gewirtzman. Er hatte  ein noch  verrückteres Fluchtleben als seine spätere Ehefrau überstanden https://de.wikipedia.org/wiki/David_Gewirtzman

Mit David bekam  Lillian zwei Kinder, die beide später in sozial orientierten Berufen arbeiteten (Psychotherapeutin und Kinderarzt); Lillian meinte mir gegenüber, die Berufswahl ihrer Kinder komme in jüdischen Flüchtlingsfamilien häufig vor.

 Ihre ganze Arbeitszeit steckte Lillian in die mit ihrem Mann gemeinsam geführte Drogerie und die Erziehung der Kinder.

Zu den Seltsamkeiten ihres  Lebenslaufs gehörte, dass Ehemann David von der US-Regierung nach Deutschland, in einen Ort der damaligen amerikanischen Besatzungszone, abkommandiert wurde, nach Crailsheim, wo wenige Jahre zuvor die  jüdischen Bürger geflüchtet waren oder ermordet wurden (Darüber erzählt L. in dem mit C. Nieraad zusammen herausgegebenen Erinnerungsbuch).

Als der Sohn des Ehepaars Lillian und Dave  zu studieren begann - Lillian war gut vierzig Jahre alt  - sagte sie: Jetzt will endlich auch ICH studieren! Sie studierte vor allem Philosophie und schloss das Studium mit einer Master-Arbeit über den deutschen  Philosophen F. Nietzsche ab (Sie hätte auch an der Uni bleiben können, aber sie wollte sich  wieder wie zuvor um Familie und Firma kümmern.).

Eines der großen Engagements von Ehemann David war es, Menschen vor Rassismus zu warnen.  Er tat sich dafür auch zusammen mit einer jungen Afrikanerin, Jaqueline Murekatete https://en.wikipedia.org/wiki/Jacqueline_Murekatete die in ihrer Heimat einen Genozid überlebt hatte.

 Lillian schrieb mir einmal, sie haben ihren Mann m°e°h°r geliebt als sich selbst. Sie schrieb nur verehrungsvoll von ihm; sich selbst sah sie, im Gegensatz zu ihrem Mann, oft sehr selbstkritisch.

Wenn ich recht weiß, verkaufte das Ehepaar seine Drogerie, um in den Ruhestand gehen zu können. 

Lillian arbeitete dann eine  Reihe von Jahren als Interviewerin für die von Steven Spielberg gegründete und finanzierte „Shoa Foundation“. Einige ihrer Beobachtungen und Gedanken bei dieser Tätigkeit notierte sie in einem Aufsatz für die NewYorker jüdische Zeitung „Algemeiner“: https://www.algemeiner.com/2011/12/28/relfections-of-a-shoah-interviewer/  (im Titel dieser  Zeitung ist noch deren  jiddischer Beginn erinnert).

Auf der Website des Washingtoner Holocaust Museums finden sich eine Reihe Fotos aus dem Familienbesitz von „Lila Rajs“, wie sie sich zuerst schrieb, und von Verwandten und Bekannten von ihr, teils aus der ostpolnischen Heimat, teils aus den DP-Jahren danach……Hier ein Link von mehreren : https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1127412

Lillian blieb auch im Ruhestand ein überaus lebendiger Mensch und Zeitgenosse. Sie nahm an der politischen Entwicklung in den USA regen Anteil (über Trump zeigte sie sich zu dessen großer Zeit sehr unglücklich). Sie lernte Yoga. Sie reiste gern. Obwohl der Herkunftsreligion gegenüber distanziert, besuchte sie an Sabbattagen gern die Synagoge von Riverdale (einem Stadtteil von NewYork) und begeisterte sich für dessen liberalen Rabbiner. Sie hatte viele persönliche Kontakte, unter anderem zu einer in den USA bekannten Professorin für Jiddistik. Sie besuchter gern Opern und Konzerte in der „Met“. Sie wurde auch bekannt mit der in Attenwiler / Oberschwaben lebenden Malerin Marlis Glaser. M. Glaser hat Lillian besucht, gezeichnet, gemalt und interviewt und stellt sie in einem ihrer Katalogbände größer  vor.

 Marlis suchte anlässlich eines Besuchs von Lillian bei ihr in Attenweiler  jemanden,  der ihren Gast  durch unsere Gegend führt; da bat sie mich, das zu tun,  ich wurde auf diesem Weg  mit Lillian bekannt und bald auch, wie meine Frau Uli, befreundet.

Über das mit C. Nieraad gemeinsam verfasste bzw. herausgegebene Buch „Nach dem Schweigen“  siehe: https://www.haus-unterm-regenbogen.de/elemente/2017/p_17_fried.html

 

Eine bewegende Geschichte,

bei der ich Lillian helfen konnte
(notiert am 11. November 2015).

 

Ich kenne seit Ende September  2015 eine 81jährige Frau aus New York, mit Vornamen Lillian. Sie ist geboren 1934 in Polen, als Tochter eines Müllers jüdischen Glaubens.

Sie überlebte die NS-Zeit mit ihrer Familie in der Sowjetunion, u.a. in Sibirien und Aserbeidschan. Lillian meint: sie sei in diesen frühen Lebensjahren eine kleine Russin geworden. Sie liebe russische Lieder, Komponisten, Gedichte : -)

Nach der NS-Niederlage wanderten die Eltern mit ihr und einem -  jüngeren - Bruder aus Aserbeidschan nach Deutschland. Als "displaced person"   kam Lillian G. 1945/46 nach ULM an der Donau.  Dort, in Ulm, lebte die Familie mit tausenden anderen DPs in einer einstigen Wehrmachtskaserne. -  Die wenigen Jahre in Ulm werden von Lillian als die schönste Zeit ihres Lebens empfunden: Sie lernte erstmals so etwas wie höhere Kultur kennen und genoss das sehr; ihre ersten Kunst-Bildungserlebnisse betrafen das Ulmer Münster, Orgelmusik dort, Lieder von Franz Schubert (gesungen von Fischer-Dieskau) und Auftritte von Marika Rökk.

 Anfang der Fünfziger Jahre wanderte die Familie von Lillian in die USA. L. bekam als erste der Familie "drüben" eine Stelle, weil sie mit Abstand am besten Englisch sprach.  

LG führte mit ihrem späteren Ehemann David (einem Überlebenden der Shoa) in New York lange Zeit und mit Erfolg einen Drugstore. Sie war und ist Mutter von zwei Kindern.

Sie begann noch als VIERZIGjährige (als auch einer ihrer Söhne zu studieren begann) ein Philosophie-Studium und schloss es mit dem Master of Arts ab, Thema ungefähr: "Nietzsche und die Maske".   Lillian kam an der Jahreswende 2006/7 im Zusammenhang mit einer Ausstellung in Ulm über "Displaced Persons" (für welche sie zuarbeitete) wieder nach Ulm. Sie hatte Kontakt mit einer (mir, vf, wichtigen) Künstlerin, Marlis Glaser, die  20 km von Ehingen entfernt in dem Dorf Attenweiler lebt und arbeitet http://www.marlis-glaser.de/  - M. Glaser erhielt im Frühjahr 2015 in Berlin  als Anerkennung ihrer künstlerisch-biographischen Arbeit  den Obermayer-Award  überreicht. (Ich unterstütze seit einer Reihe von Jahren die Erinnerungs- und Würdigungsarbeit von M. Glaser. Ich empfinde, ihre Arbeit sei die SCHÖNSTE Würdigung, die deutsche Menschen jüdischen Menschen zukommen lassen können). Lillian wollte (trotz einer sehr schweren Erkrankung im  Frühjahr 2015) nochmals ihre Freundin Marlis besuchen, weitere Freunde in Deutschland und insbesondere auch ULM. Diese Reise war vielleicht so etwas wie ein "Befreiungsschlag", die Reise  war vielleicht,  um das Hohe Lied zu zitieren, "ein Siegel wider den Tod".

Marlis machte mich mit ihrem Gast Lillian bekannt; sie bat mich, ich solle doch (wie schon mal in einem früheren Fall, als eine israelische Freundin Marlis besucht hatte) ihren Gast durch unsere Gegend führen. Das tat ich gern und wurde für diese "Cicerone-Tätigkeit" :- ) belohnt durch das Kennenlernen eines angenehme, klugen und vor allem WITZIGEN Menschen. Ein Hit bei unseren zwei Tagesausfahrten war ein Besuch in Ulm, bei welchem Lilliane "MEIN Münster" wieder sah und betrat; sie erinnerte sich noch, an welcher Säule des Mittelgangs sie als etwa 12jährige, also vor SIEBZIG Jahren,  erstmals eine Orgel erklingen hörte.

Einige Monate nach unserem Kennenlernen fragte mich Lillian (per e-mail),  ob ich ihr  den Namen des Autors JENES  Theaterstücks ermitteln könne, das sie 1998 auf einem Zwischenstopp in Berlin (während einer Reise nach Polen)  in Berlin sah; es war ein Abend, mit dem sich für sie, Lillian,noch SIEBZEHN Jahre später  intensive Erinnerungen verknüpfen.

 

“Dear Veit , I have been searching for something on and off for a number of years without success. This morning it hit me between the eyes: "Veit is the best researcher I know". - In 1998, on the way to Poland, I stopped in Berlin. In some off-center theater I attended a play by the name of "Das bin nicht ich,  das ist Hitler gewesen". - It was an Amateur-Type performance attended by mostly young people, and had neither playbill nor  program worth saving at the time. Therefore, I do not know the name of the writer. - Presently I am scheduled to give several talks as well and write an article for which I want to use a quote from the play. Being a real stickler for academic authenticity, I will not quote it without crediting the author.”

 

Ich, Veit,   fand im Internet sehr rasch den Namen "Hermann van Harten" und auch die e-Mail-Adresse des Theaters, an dem das Stück mit seinem NS-Bezug jahrzehntelang in Folge ! aufgeführt wurde.  Außerdem fand ich im Internet mehrere Zeitungstexte über die "Freie Theateranstalt", ihren Autor, Regisseur, Protagonist Hermann van Harten, über die zahlreichen Stücke, die er geschrieben hat, die Zahl: "tausende Aufführungen" in mehreren Jahrzehnten etc.

Die Internet-basierten Zeitungsnachrichten beginnen um 1994

https://taz.de/Dann-singt-er-vom-Rebben-der-brennt/!1554033/

https://www.berliner-zeitung.de/stadtgestalten-hermann-van-harten-spielt-seit-achtzehn-jahren-dasselbe-stueck-ich-bin-s-nicht-adolf-hitler-ist-es-gewesen-das-lebende-mahnmal-li.60833

 und enden  mit dem Jahr 2012; damals wurde berichtet, die Fortexistenz des Theaters sei in Gefahr, weil ein Spekulant das Gebäude mit dem Theater darin aufkaufen und anders verwerten wolle.  Die Website des Theaters http://www.freietheateranstalten-berlin.de/index.html endet denn auch mit dem Jahr 2012.

 

Ich mailte  meine Funde an Lillian, die mir daraufhin jenes ihr so wichtige Erlebnis aus dem Jahr  1998 schilderte.Ich werde es hier zunächst im Original zitieren und dann eine Übersetzung versuchen.

 

 Lillian über   ihr Erlebnis in Berlin 1998

Übersetzung ins Deutsche abschnittweise dazwischen.

 

I finally got to read through the whole story and am fascinated. Just imagine, I wandered into this on total blindness. Here is my total experience (of it bores you, just click erase.)  In 1998, on our way to Poland, David and I stopped in Berlin.  Our hotel had many suggestions
for our entertainment  but refused to make reservations for us for the one play that caught our attention with a simple poster with a catching title.  So I went upstairs and called by myself. The play took place in a God-forsaken, all Turkish section of Berlin, on a third floor of an apartment building. 

 

1998 war ich mit meinem Mann David auf dem Weg nach Polen. Beim Zwischenstopp in Berlin fiel mir ein Plakat auf mit einem packenden Titel. Das Hotel schaffte es nicht, uns Eintrittskarten zu besorgen. So machten wir uns halt selbst auf den Weg. Der Spiel-Ort war in einer ziemlich gottverlassenen , durchweg türkischen Gegend von Berlin, im dritten Stock eines Gebäudes mit zahlreichen Appartments. 

 

 After the climb we came into a foyer of an apartment with a woman behind a small desk. She seemed to know who we were before we opened our mouth and led us to a sofa in a room with a Parisian carpet, where we were seated until the rest of the audience was ushered inside. Ultimately we were led into the performance room and seated in front, smack center.

 

Nach dem Treppenaufstieg kamen wir in ein Foyer mit einer Frau hinter einem kleinen Empfangstisch. Sie schien uns zu kennen, noch bevor wir den Mund aufgemacht hatten, und führte uns zu einem Sofa in einem Raum mit Perserteppich, wo wir uns setzten, bis die anderen Besucher im Vorführungsraum Platz genommen hatten. Endlich wurden wir dann ebenfalls  dorthin geführt und saßen dort ziemlich prominent.

 

It was a very powerful play, about which you, as I know you by now, probably read up more than I will ever know. This particular evening it was about the Gauleiters of Krakau. It had a powerful ending: the perpetrator, condemned to death, walks away to a tunnel, echoing the statement "Our children will ask...ask.. ask.."

 

Das Stück war beeindruckend. An DIESEM Abend ging es um den NS-Gauleiter von Krakau. Der endete schlimm: der Verfolger wurde zu Tod verurteilt, er hatte versucht, durch einen Tunnel zu flüchten -  und ihm klangen dabei die Rufe  entgegen: "Unsere Kinder werden dich fragen.... fragen..... fragen…"

 

But just before that, he stops right before David , kneels down before him, looks up in his face and says: Please forgive me, even though I don't deserve it!

 

Bevor der NS-Täter in dem Tunnel verschwand, trat er auf David zu, hielt vor ihm, kniete sich vor ihn nieder, schaute ihm ins Gesicht und sagte: "Vergib mir, obwohl ich das nicht verdiene!"

 

David, usually a very composed person, lost all of his composure and burst out  crying, weeping like a child. In the back of us an entire class of highschool youngsters put their arms around him,and we all cried together.

 

David ist sonst eine sehr selbstkontrollierte  Person, er verlor total seine Fassung, brach in Tränen aus, weinte wie ein Kind. Hinter uns saß eine Klasse von Oberschülern; sie kamen zu David,  legten ihre Arme um ihn  -  wir weinten alllle zusammen.

 

I always suspected that the actor was the play write and the woman who seated us, his wife. -

 

Ich vermutete die ganze Zeit, dass der Hauptdarsteller auch der Autor war und dass die Frau, die uns auf das Sofa gesetzt hatte, seine Frau ist.

Lillian“

 

Nachdem ich, Veit,  die e-Mail-Adresse des Theaters im Internet gefunden hatte, kam mir der Gedanke, ich könnt dort nachfragen, ob der Autor noch lebt, ob es sein Theater noch gibt und ich könnt ihm von den ungewöhnlichen Gästen, rund zwanzig Jahre zuvor,  und deren  ungewöhnlichem Erlebnis während einer seiner Theaterabend anno 1998 erzählen.

Gesagt, getan.

Die von mir angemailte Adresse "Adelheid Rogger" antwortete: "Herr van Harten lebt. Rufen Sie ihn ruhig unter der Nummer..... an!". - Das tat ich. - Mein Gesprächspartner war zunächst recht reserviert, taute dann aber im Lauf des Gesprächs auf und erzählte mir u.a., dass das Theater tatsächlich  schließen musste; die Theaterspieler und andere in diesem "Künstlerhaus" tätige Künstler unterlagen im Bieterwettstreit.  Er, Harten, wolle trotz seiner 76 Jahre gern noch weiter Theater machen; beim derzeitigen Erstarken extrem RECHTER Gruppen in Deutschland sei das sehr nötig. Er stehe in Verhandlung mit dem Berliner "Senat" wegen Erhalt von Räumen für seine "Theateranstalt".  - Herr van Harten war erfreut über meine Erzählung des Vorgangs im Jahr 1998 und bat mich, Frau Lillian G. herzliche Grüße auszurichten, was ich sogleich tat.

Ich erzählte Lillian  auch die Aussage Hartens, dass die  Frau 1998  an der Theaterkasse  Hartens "Lebensgefährtin seit fünfzig Jahren“ ist, die - aus der Schweiz stammende - Schauspielerin Adelheid Rogger". -  Harten erzählte mir auch, dass sein Theaterstück in ANDEREN Ländern mehr Aufmerksamkeit erhielt als in DEUTSCHLAND. Harten korrigierte die Erinnerung Lillians ein wenig: die Hauptperson des damaligen Theaterstücks sei der deutsche Chef des "Generalgouvernements" Polen, Hans Frank, gewesen.

 

M. Glaser zum Lebenslauf von Lillian

 

Die Künstlerin M. Glaser hat L. Gewirtzman gezeichnet und gemalt und ihren Lebenslauf notiert (hilfreich war dabei auch ihr Sohn Samuel). Glaser notierte präzis, viel präziser als es mein, VFs, vorstehender Text ist. Mit Erlaubnis von M. Glaser darf ich die von ihr verfasste Lebensbeschreibung Lillians aus dem Band „Marlis Glaser - Neue Arbeiten 2008 /  2012 - Bilder über Menschen und Bücher Bäume und Früchte“ (erschienen 2012) übernehmen und zudem die Übersetzung ins Englische (M. Glaser hat in dem hier erwähnten Band auch dem Ehemann von Lillian, David Gewirtzman, einen biographischen Text und ein Portrait gewidmet)

Lillian Gewirtzman, New York

Geboren am 11. Juni 1934 als Lilia Rajs in Grabowiec, Tochter von Herschel und Chaja Rajs (geb. Papier). Dort betrieben ihr Großvater Mordechaj Rajs und ihr Vater eine Getreidemühle. Lilia besuchte, als einziges Mädchen, drei Jahre den Cheder.

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen im September 1939 floh die Familie mit den Großeltern und den fünf unverheirateten Schwestern des Vaters aus dem noch unbesetzten Grabowiec in den sowjetisch besetzten Sektor. Die Familie der Mutter blieb: „They believed that German soldiers were gentlemen.“ Keiner von ihnen überlebte die Shoa. Sie wurden mit den anderen Juden der Stadt nach Majdanek oder Belsec deportiert und ermordet. In der sowjetischen Zone angekommen, meldete Herschel Rajs die mittellos gewordene Familie als Freiwillige zur Umsiedlung nach Sibirien, in der Befürchtung, sonst zwangsweise deportiert zu werden. Sie wurden in einen Wald in der Nähe des sibirischen Dorfes Samje geschickt, wo alle erwachsenen Familienmitglieder außer der schwangeren Mutter Chaja bei der Waldarbeit eingesetzt wurden. 1940 wurde Lilias Bruder Israel geboren.

1941 heiratete eine der Schwestern des Vaters und zog mit ihrem Mann nach Kiew; der Rest der Familie sollte ihr folgen, wurde aber in Tscherkassy aufgehalten. Wenige Wochen später griff das Deutsche Reich die Sowjetunion an. Herschel Rajs wurde zur Roten Armee eingezogen und in Kiew stationiert, während seine Familie auf dem Dnjepr nach Süden evakuiert wurde. Das Schiff mit den Flüchtlingen fuhr nur tagsüber, um nachts den Fluss für Schiffe der Roten Armee freizuhalten; es wurde mehrmals von deutschen Fliegern beschossen. „Wir lagen auf dem Boden. Meine Mutter sagte, es wird nichts passieren, es wird in Ordnung sein. Ich war sechs Jahre alt, ich habe ihr geglaubt.“ Die halbverhungerten Flüchtlinge wurden in Zügen weiter in Richtung Osten transportiert: „Sie trugen jeden Tag tote Kinder weg. Wir haben alle gebettelt; ich stellte mich neben die, die aßen, und sah ihnen in die Augen. Ich lernte, Essen zu besorgen.“ Die Reise der Familie endete in Ağdam, im Süden von Aserbaidschan. Herschel Rajs, der an der Front gekämpft hatte, wurde nach einer Verwundung aus der Roten Armee entlassen – zehn Monate später fand er die Familie wieder: „Wir waren vor Hunger aufgebläht; er hat uns auf dem Schwarzmarkt Essen beschafft.“

Die Rajs‘ bleiben bis 1946 in Aserbaidschan. „Ich war ein vollkommen russisches Kind. Ich liebte den Kommunismus.“ Trotzdem: „Am Schabbat hat meine Mutter eine Kartoffel ausgehöhlt und darin zwei Fetzen Stoff angezündet, als Schabbatlichter.“

1946 beschloss die Familie, nach Polen zurückzukehren. Dort erfuhren sie vom Schicksal der Verwandten und Freunde aus Grabowiec: „Wir blieben nicht lange. Wir wollten nach Israel.“ Über die Tschechoslowakei und Österreich kamen sie nach Deutschland. „Die UNRRA brachte uns nach Ulm ins DP-Camp. Dort ging ich in die Schule. Man brachte uns Hebräisch bei, alle Fächer wurden auf Hebräisch unterrichtet.“ 1948 zog die Familie ins DP-Lager Feldafing, wo Lilia als Lehrerin für die zweite Klasse der Hebräischen Schule des Lagers arbeitete. 1951 konnte die Familie in die USA auswandern. Sie arbeitete eine Zeitlang als Bürokraft bei einer New Yorker Versicherungsgesellschaft und ließ sich gleichzeitig zur Assistenzärztin ausbilden. 1954 heiratete sie David Gewirtzman, einen Überlebenden aus Losice (Polen) und lebte mit ihm einige Zeit in Deutschland, wo er als Dolmetscher der U.S. Army eingesetzt war. Zurück in den USA, bauten die beiden eine Apotheke in New York auf, die sie 35 Jahre betrieben. Während dieser Zeit bekam Lillian zwei Kinder; außerdem begann und beendete sie ein Studium der Philosophie.

 

Übersetzung ins Englische

Lillian was born in Grabowiec on 11 June 1934 as Lilia Rajs, the daughter of Herschel and Chaja Rajs (née Papier). Her grandfather, Mordechaj Rajs, and her father ran a flour mill. Lilia attended the Cheder for three years, as the only girl. After the German invasion of Poland in September 1939 the family fled with the grandparents and the father’s five unmarried sisters from the unoccupied Grabowiec to the Soviet-occupied sector. The mother’s family stayed:  “They believed that German soldiers were gentlemen.” None of them survived the Shoah. They were deported with other Jews to Majdanek or Belsec and murdered. When they arrived in the Soviet zone, Herschel Rajs registered the family which had lost all its possessions, as volunteers for relocation in Siberia because they feared they would otherwise be deported. They were sent to a forest near the Siberian village of Samje, where the whole family with the exception of the mother Chaja, who was pregnant, had to work. In 1940, Lilia’s brother Israel was born.

In 1941 one of the father’s sisters married and moved to Kiew with her husband; the rest of the family was meant to follow her, but was detained in Tscherkassy. A few weeks later the German Reich attacked the Soviet Union. Herschel Rajs was drafted into the Red Army and stationed in Kiew, while his family was evacuated from Dnjepr to the south. The ship with the refugees only sailed during the day; at night the river had to be kept free for the Red Army. The ship was attacked several times by German aeroplanes. “We lay on the floor. My mother said nothing would happen, everything would be okay. I was six years old; I believed her.” The starving refugees were taken by train further east: “Every day they took away dead children. We all begged; I stood next to people who were eating and looked them straight in the eye. I learned to get hold of food.”  The family ended up in Ağdam in the south of Azerbaijan. Herschel Rajs, who fought at the front was discharged from the Red Army after he was injured and ten months later he found his family again. “We were bloated from hunger; he bought food for us on the black market.”

The Rajs stayed in Azerbaijan until 1946. “I was a completely Russian child. I loved communism.” Despite that: “On Shabbat my mother hollowed out a potato and lighted two scraps of material inside as Shabbat candles.”

In 1946 the family decided to return to Poland. There they heard what had happened to relatives and friends from Grabowiec: “We didn’t stay long. We wanted to go to Israel.” They travelled to Germany via Czechoslovakia and Austria. “The UNRRA took us into a DP camp in Ulm. I went to school there. They taught us Hebrew and every subject was taught in Hebrew.” In 1948 the family moved to the DP camp in Feldafing where Lilia worked as the teacher for the second grade of the Hebrew School in the camp. In 1951 the family was able to emigrate to the USA. She worked for a time as an office worker at a New York insurance company and at the same time trained to be a doctor. In 1954 she married David Gewirtzman, a survivor from Losice (Poland) and lived with him for a time in Germany where he was an interpreter for the U.S. Army. Back in the States they opened a pharmacy in New York and ran it for 35 years. During this time Lillian had two children and also started and finished studying Philosophy.

 

Richard und Pauline Serkey, Plymouth/USA

Zu den selten schönen, erfüllenden Begegnungen meines Lebens gehörten jene mit dem Ehepaar Richard und Pauline Serkey im Jahre 2017 in Ehingen und einige Jahre später nochmals, in Ulm. Ich hatte zuvor schon einen mailigen Kontakt - und auch  NACH der unten beschriebenen Begegnung 1917. - In einer längeren Tagebuchnotiz aus dem Herbst 17 beschreibe ich, wie ich, Veit, mit den Serkeys und insbesondere mit  Rich Serkey bekannt wurde.

„Am Sonntag, 15.10.2017,  führten die Fegers zwei ihnen bis dahin persönlich nicht näher bekannte US-Bürger durch den Raum Ehingen (Ziele u.a. in  Ehingen das „Schlössle“ und das Zeitungsarchiv Feger, ein Erntedankaltar in der Pfarrkirche Unterstadion, das Münster Zwiefalten, der Blautopf Blaubeuren).  - Wie kam es zu dieser nicht alltäglichen Begegnung ?

Drei Jahre zuvor, 2014, schenkte der US-amerikanische Rechtsanwalt Richard Serkey, damals 67 Jahre alt,  einem  Ulmer Sportverein den Tennisschläger seiner 1914 geborenen Mutter Hanne Serkey geborene Mann. Hanne war in jungen Jahren in Ulm eine begeisterte, erfolgreiche Tennisspielerin gewesen. Zu Anfang des Dritten Reichs wurde die  Erfolg versprechende Mehr-Disziplinen-Sportlerin ihrer jüdischen Herkunft halber aus ihrem Sportverein ausgeschlossen, noch bevor die neue NS-Regierung so etwas gefordert hatte (in der Politikwissenschaft nennt man das „vorauseilenden Gehorsam“). Die junge Frau   wanderte daraufhin in die USA aus, mit ihrem  Vater und weiteren  Angehörigen,  zunächst nach England und dann weiter in die Vereinigten Staaten.

Einige Menschen in Ulm wollten nach dem Erhalt des Tennisschlägers den Stifter aus den USA zu einer Überreichungsfeier nach Ulm einladen;  aber weil es sich nicht so gut macht, jemanden zu  einer so weiten Reise einzuladen, ohne das Ticket für die Reise zu zahlen, sollten die Reisekosten von den einladenden Ulmern bezahlt werden. Der Ulmer NS-Forscher und langjährige Leiter des DZOK (Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm), Dr. Silvester Lechner, fragte mich, VF, den er schon lange als Unterstützer kannte, ob ich das  Ticket für R. Serkey spende. Das tat ich  gern.

(Zu Silvester Lechner: Er  erhielt einige Jahre zuvor den Obermayer-Preis; für diesen Preis hatten ihn  Richard  Serkey und der aus Ulm stammende Freiburger Rechtsanwalt Michael Moos vorgeschlagen.

Die Ticket-Spende eröffnete den Mail-Wechsel zwischen R. Serkey und mir, Veit Feger.

Per Mail fragte ich dann meinen Adressaten in den USA nach Angaben zur Familiengeschichte. Rich  schickte mir u.a.  die Kopie eines Briefs, den sein Großvater, der Vater der erwähnten Sportlerin und einst ein angesehener Ulmer Gemeinderat, Rechtsanwalt und vor dem Ersten Weltkrieg Vorsitzender einer Ulmer Anwaltsvereinigung, Dr. Siegfried Mann,  NACH dem Ende des Dritten Reichs, 1947, an einen deutschen Freund in Stuttgart schrieb, einen sieben Din-A-4-Seiten umfassenden maschinengeschriebenen Brief, der mich ob seiner souveränen und gegenüber einem damaligen DEUTSCHEN (1947) liebenswürdigen Art tief beeindruckte. - Der  Brief wurde am 28. Januar 1947 geschrieben, einen Tag nach der Geburt des  Enkels Richard Serkey. Siegfried  Mann erwähnt diese Geburt in seinem Brief nach Deutschland; und jener Richard war JETZT,  70 Jahre später, unser Gast.

Auf dieser Website http://www.goldengullstudios.com/Testimonials.aspx erzählt Richard, dass er seinem 97jährigen Vater eine große Freude machte,  als er ihm ein 96 Jahre zuvor geknipstes Foto gerahmt übergab, ein Foto, auf dem der Vater als Baby mit einigen Verwandten zu sehen ist. Eine Woche später starb der geliebte Vater.

In der Familie Mann / Serkey kursiert eine umfangreiche Darstellung, die aufzeigt, mit wem alles Angehörige der Großfamilie Mann in den letzten hundertfünfzig Jahren zu tun hatten:  Da taucht eine erstaunliche Zahl bekannter Deutscher und auch NICHT-Deutscher auf. - R. Serkey hat einen umfangreichen innerfamiliären Briefwechsel und zahlreiche Fotos dem Ulmer Dokumentationszentrum vermacht (500 Briefe, 300 Fotos).

Richard Serkey war von meinem Ticket-Sponsoring  so  angetan, dass er  bei einem  Ulm-Trip, im Oktober 17, MICH sehen wollte. Silvester bahnte unsere  Begegnung an. Alle vier an dem Treff Beteiligten  (unsere beiden Gäste aus den USA, Uli und ich) kamen wunderbar klar, wesentlich bedingt durch die herzliche und  unkomplizierte Art unserer Gäste.

Ich hatte den Besuch durch eine kurze Schilderung der Lebensläufe von Uli und Veit plus nettem Foto vorzubereiten versucht. Ein Foto von Rich und Pauline, aus dem Internet entnommen, hielten wir dann am Sonntag, 17. 10. 2017,  10.43 Uhr, auf dem Ehinger Bahnsteig  den beiden  aus dem Zug steigenden Eheleuten entgegen, mit der großen Aufschrift „Welcome to Fegers at Ehingen“. Wir führten die zwei dann während sechs Stunden zu mehreren Zielen, mit dem Südpunkt Unterstadion, dem Westpunkt Zwiefalten und dem Nordpunkt Blaubeuren.

Bei einer Stadtrundfahrt durch Ehingen kam das Thema „Schlecker-Pleite“ und „Prozess wegen betrügerischen Konkurses“ zur Sprache -  für den US-Rechtsanwalt ein interessantes Thema. - In unserem Zeitungsarchiv im einstigen Verlags- und Druckereigebäude erwähnte ich, dass der Familie  Feger bereits  im Herbst 1934 von den örtlichen NS-Gewaltigen das Verlagsrecht  genommen wurde.

Für Richard war es neu zu hören, dass die USA im Zweiten Weltkrieg deutsche Kriegsgefangene (u.a. auch meinen Vater Ludwig Feger)  bis in Gefangenenlager in den USA transportierten. Ich konnte diesen Gefangenenlager-Ort in den USA  mit einem  von meinem Vater überkommenen Buch belegen: mit einer Taschenbuchausgabe der US-Geschichte von Henry Steele Commager, erschienen 1942 in den USA, versehen mit einem Stempel „Censored Fort Wetherill, Rhode Island“. Leider fand ich nicht das Englisch-Wörterbuch, das mein Vater damals in den USA erhielt und in dem „Prisoner of War“ eingestempelt ist.

Unseren Gästen gefiel bei unserer Rundreise sehr der Erntedankaltar in der Pfarrkirche  Unterstadion, sicher der schönste im Raum Ehingen, seit vielen Jahren. Die zentrale Figur dieses Erntedank-Altars war  ein Heiliger Florian; Serkeys erzählten uns, dass sie am folgenden Tag in Ulm zu einem Abendessen mit FLORIAN W. und seiner Frau Nicola eingeladen seien.

Beim Besuch des Zwiefalter Münsters erkannten Richard und ich, dass wir Agnostiker sind. Rich ist  nicht mit einer Jüdin verheiratet; seine Pauline stammt von deutschen Mennoniten ab, die im 18. Jahrhunderts  in die USA einwanderten. - Das Ehepaar Serkey hat  kein eigenes Kind und adoptierte vor langem ein drei Monate altes kolumbianisches Waisenkind.

Ein Blick auf meine Bücher weckte  die Erinnerung an eine Buch-Story im Leben von Richard. Als im Frühjahr 2017 ein Bremer Uni-Bibliothekar erkannte,  dass sich in seiner Bibliothek ein Buch befindet, das eigentlich der Mutter von Richard Serkey gehörte (es war von den Nazis aus einer geplanten Transport-Sendung ins Ausland widerrechtlich angeeignet worden), suchte dieser Bibliothekar nach der ursprünglichen Besitzerin und fand dann Hanne  Manns Sohn in den USA. Richard bestimmte, dass  dieses Buch nicht zu ihm in die USA geschickt wird; er vermachte es dem DZOK Ulm- - http://www.swp.de/ulm/lokales/ulm_neu_ulm/ns-raubgut_-uni-bibliothek-bremen-uebergibt-altes-ulmer-buch-dem-dokumentationszentrum-14652068.html

Zum Abschluss jenes schönen, denkwürdigen  Tages brachte ich unsere Gäste nach Ulm, wo sie im  „Schiefen Haus“ übernachteten.

Zuhause googelte ich dann nach „Richard Serkey“ und erfuhr u.a.: Geboren am 27.2.1947 in New  York. Mathematik-Student an der  Brandeis-Universität mit bestem Abschluss.  R. Serkey gehörte  zur Hochbegabten-Organisation der  PhiBetaKappa  (wie meine einstige US-Freundin Sharon Sluboski, Kalifornien; die drei griechischen Buchstaben bedeuten „die Suche nach Weisheit führt durchs Leben“). Ich lernte auch: Richard studierte nach der Mathematik Jura, promovierte und wurde dann für vierzig Jahren  Mitglied einer angesehenen Rechtsanwaltssozietät in der Pilgrim-Father-Stadt Plymouth (Massachusetts). Er wurde mehrfach zu einem „Super-Anwalt“ gewählt, wurde  Gemeinderat von Plymouth und übernahm weitere Ehrenämter.

In einem Statement für die Ehemaligen-Organisation seiner alten Alma Mater  „Brandeis“ legte Richard  ein erstaunliches Bekenntnis ab:  (Class of 1967  1967notes@alumni.brandeis.edu 50th Reunion June 9-11, 2017) “As I approach my 69th birthday, I am grateful for my many blessings. My wife, Pauline, has been my loving mate for 42 years now. Our son, Ethan Miguel, is the focus of our concern as he battles the burden of autism. My profession as a real estate attorney continues to engage me. Our hometown of Plymouth, Massachusetts, is our chosen domicile. I consider myself a lucky guy.” - Ich, VF, versuche zu übersetzen:  „An meinem 69. Geburtstag erlebte ich dankbar zahlreiche Glückwünsche. Meine Frau Pauline ist meine geliebte Partnerin  seit jetzt 42 Jahren. Unser Sohn Ethan Miguel steht im Mittelpunkt unserer Sorgen, weil er mit der Last des Autismus kämpft. Mein Beruf als Anwalt insbesondere in Grundstücksfragen beschäftigt mich beständig. Unsere Heimatstadt Plymouth ist unser erwählter Wohnort. Ich betrachte mich als einen Glücksjungen.“

Richard und Pauline Serkey haben ihre  Freundlichkeit und Dankbarkeit gegenüber den Ehinger Feger auch durch eine Spende für das Ulmer DZOK ausgedrückt   - ein Vorgang, den wir Feger so noch nie erlebt haben.)

Die Fegers hatten das Vergnügen, Serkeys ein zweites Mal zu treffen, diesmal  in Ulm. Wir speisten zusammen im „Himalaya“ am  Ulmer Rathaus - erneut eine schöne Begegnung!

 

Nachtrag  (2023).

Im Jahr 2019 wurde bei einer Gedenkfeier im Ulmer Stadthaus ein Text öffentlich gelesen mit Zitaten aus Briefen der Familie Mann. „Lesung zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus,  27. Januar 2019, Briefe zwischen Emigration und Ulm. -  Die Geschichte der Familie Mann“,

Inzwischen  ist R. Serkey  aus der Anwaltssozietät Winocur, Plymouth, ausgeschieden und in den Ruhestand getreten. Soweit es die Gesundheit erlaubt, wandert das Ehepaar gern.

 

Gali Kahn Yerushalmi.

Seit Jahren stehe ich in herzlichem Austausch mit der israelischen Künstlerin Gali Kahn, verheiratete Yerushalmi. Gali hat uns  schon besucht, zusammen mit ihrem lieben Mann Tsachi Yerushalmi. -  Tsachi stammt aus einer Familie, die seit Jahrhunderten ! in der ursprünglichen Heimat der meisten jüdischen Menschen lebt; Gali stammt von Flüchtlingen aus Deutschland/Niederlande ab. Vorfahren von Gali wurden  von der Künstlerin  Marlis Glaser portraitiert.

 Gali studierte u.a. Kunst und ist in VFs Augen eine hoch begabte, interessante Künstlerin. Arbeiten von ihr kann man auf ihrem Facebook-Account   https://www.facebook.com/galityer und auf einer eigenen Website https://www.galikahn.com/ sehen.

Zur Person (aus VFs Sicht): Gali liebt Pflanzen, Menschen und Tiere, vor allem Hunde. Gali liebte ihren Vater, einen agnostischen China-Kenner, über alles. Gali  begeistert sich für klassische Musik und hat einen Sohn, der gern Pop-Musik auf der Gitarre spielt. Gali liebt die Alpen und am meisten das Zillertal. Sie flieht vor der sommerlichen Hitze ihrer Heimat gern in die kühleren Alpen oder zu ihrer in England lebenden Tochter. Gali hat in ihrer Heimat Israel eine sehr große Anzahl Facebook-Freunde.

 

Veit Feger

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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