Zum autobiographischen Roman „Tochter
des großen Stromes“ von Hong Ying und zu ihrer Biographie
Die Chinesin Hong Ying, geboren 1962, wurde seit Mitte der Neunziger Jahre
in westlichen Ländern durch mehrere Romane bekannt. Als bisher
erfolgreichster Roman gilt die Autobiographie „Tochter des großen Stromes“
(erstmals erschienen 1997, in Taiwan, nicht in Festlandschina, unter dem
Titel „Tochter des Hungers“; erstmals auf Deutsch erschien diese
Autobiographie im Jahr 2006, als Taschenbuch dann 2008). Auch andere Romane
von Hong sind autobiographisch grundiert, etwa „Der chinesische Sommer“ (aus
der Zeit des Tien-an-men-Massakers) und „Der Pfau weint“.
Der Liaison zwischen dem englischen Literaten Julian Bell (Neffe von
Virginia Woolf) und einer chinesischen Professorengattin in den 30er Jahren
des letzten Jahrhunderts wird von Hong in dem Roman „Die chinesische
Geliebte“ nachgespürt; dieser Roman wurde in China von einer Nachfahrin
jener chinesischen Geliebten juristisch bekämpft, wegen angeblicher
Verletzung des guten Rufs einer Vorfahrin http://www.spiegel.de/kultur/literatur/literatur-skandal-in-china-die-pornografische-ahnenverleumdung-der-hong-ying-a-239065.html.
Hong Ying änderte Namen und Ort, dann konnte das Buch erscheinen. http://www.stern.de/kultur/buecher/hong-ying-die-ueberlebensschreiberin-546119.html
Im folgenden einige Eindrücke, Empfindungen und Gedanken bei der Lektüre
„Tochter des großen Stromes“.
Die meisten Buchbesprecher wollen die Lese-Spannung erhalten und verraten
nicht die Plots des Romans. Diese werden im folgenden genannt (wer sie nicht
wissen will, muss also hier mit weiterlesen aufhören).
Um per Lektüre an diese „Plots“ dranzukommen, muss man immerhin 180 Seiten
Lektüre hinter sich bringen – eine oft mühselige Arbeit. Die Autorin
schildert in einem teils primitiven Stil (vielleicht ist das der
Übersetzerin geschuldet) ihre armselige Kindheit in einer chinesischen
Familie der sechziger und siebziger Jahre in Tschungking / Rotchina. Es ist
die Zeit des regierungsamtlich herbeigeführten Massenhungers, dem nach
einigen Schätzungen dreißig Millionen Menschen zum Opfer fielen; auch
Angehörige von Hong verhungerten damals.
Die Lebensumstände sind deprimierend aus verschiedensten Gründen: engster
Wohnraum, aber viele Kinder (in Hongs Familie wenigstens sechs),
schlechteste sanitäre Verhältnisse, dementsprechend geringe Körperhygiene,
schweißstinkende Körper; denkbar schlechte Heizungsmöglichkeiten, daher vor
allem im Winter frieren, frieren, frieren; Hunger, Armut, Enge, Gestank;
durch Armut- und Arbeitssituation bedingte Erkrankungen, schlechte
Ausbildung und so fort. Infolge aller dieser Umstände altern die Menschen
sehr früh, sie sehen schon früh hinfällig, gar hässlich aus; sie werden
mürrisch, bitter, ja depressiv.
Das Bild, das hier von China (und von der verantwortlichen Kommunistischen
Partei unter Mao Tse-Tung) gezeichnet wird, ist schrecklich, wirkt aber
authentisch. Man wundert sich nicht zu lesen, dass DIESER Roman in China, im
Gegensatz zu anderen Romanen der Autorin, VERBOTEN ist. Es ist kaum ein
Schrecken vorstellbar, der hier nicht entfaltet und eindrucksvoll (mit der
Zeit freilich auch langweilend) geschildert wird. Fast noch schlimmer als
die äußeren Umstände ist die Art des Umgangs der Familienangehörigen
miteinander: Neid, Feindseligkeiten, ja Hass; die stärkeren Geschwister
verhauen die schwächeren etc.
Die kleine Hong kommt sich frühzeitig in ihrer Familie ausgeschlossen vor.
Sie fragt sich ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch immer wieder nach dem
Grund dieser Ausschließung, kommt aber auf keine Antwort. Erst mit achtzehn
Jahren kann sie sich einen Reim machen, indes führt ihre Mutter JETZT,
anlässlich des Geburtstags der Tochter, eben jene Begegnung herbei, die
Hongs Vermutungen bestätigt und „alles erklärt“: Hong ist ein außereheliches
Kind, ein Kind, das die Mutter empfing in einer Zeit besonders großer Not,
als ihr Mann meist auswärts arbeiten musste und nur selten heimkam; Wärme
gab der Ehemann seiner Frau ja sowieso nicht. Ein AUSSEReheliches Kind – das
war im damaligen China bei Familie und Nachbarn ein Skandal. Dabei hatte die
Mutter ja bereits mehrere Kinder aus ihrer offiziellen Ehe. Wäre sie mit dem
Kind der Liebe“, ihrem jüngsten von sechsen, dem leiblichen Vater, ihrer
großen Liebe, gefolgt, hätte sie die anderen Kinder im Stich lassen müssen;
das konnte sie vor sich selbst nicht verantworten. Sie hätte ihr sechstes
Kind gern dem leiblichen Vater abgetreten, aber das Baby schien diesen
Vater, den es ja so kaum kannte, abzulehnen. Also blieb der Bankert in der
bisherigen Familie der Frau, ehrenwerterweise vom nicht-leiblichen Vater
akzeptiert.
Der leibliche Vater heiratete dann, eine andere Frau, statt die geliebte
Mutter von Hong; er wurde aber in der nun folgenden Ehe, mit einem
angeblichen Dorftrampel, nicht glücklich. Er arbeitet wie ein Pferd und lebt
bescheidenst, um mit seinem Lohn die offizielle Familie erhalten zu können
und seinem in einer fremden Familie lebenden Kind Alimente zu zahlen. - Wie
sich später herausstellt, werden diese Alimente von einer älteren Schwester
Hongs über Jahre hinweg unterschlagen und einkassiert….
Zum 18. Geburtstag ihrer Tochter also führt die Mutter ihre Tochter und
deren leiblichen Vater zusammen. - Die Tochter hatte bisher schon einen Hass
auf die MUTTER, weil sie sich zu wenig geliebt vorkam, nun weist sie auch
noch den VATER, der sich so sehr nach einem freundlichen Kontakt mit der
Tochter sehnte und sehnt, verachtungsvoll zurück, weil sie meint: Der hätte
sich doch mehr um mich kümmern können und sollen! - Dass dieses Mehr-Kümmern
eine - vom Gesetz verbotene - Forderung an den leiblichen Vater war, will
Hong sich nicht eingestehen. Wie schon als Baby weist sie den Vater zurück.
Zurückweisungen sind ein in diesem Buch häufig wiederkehrender „sozialer“
Vorgang.
Ausgerechnet zu der Zeit, als die Tochter ein zentrales Herkunfts- und
Familiengeheimnis lüftet, verliebt sie sich in einen ihrer Lehrer. Sie
besucht ihn günstigerweise zu einem Zeitpunkt, zu dem die Frau des Lehrers
und seine Kinder grad nicht zu Hause sind, und schläft mit ihm. Diese
Vereinigung mit dem verheirateten Mann ist für Hong ein Augenblick großen
Glücks. Trotzdem wird dieses „Date“ von Hong eigenartig geschildert und
bewertet. Die Ich-Erzählerin schreibt, ihr Lover habe gleich bei der
Begrüßung gegrinst, „selbstgefällig…, es war erniedrigend.“ (Dieses
Erniedrigtwerden hindert sie aber nicht, bei dem Objekt ihrer Begierde zu
bleiben). Selbst noch im wildesten Sturm der Gefühle und erotischen
Handlungen stellt die Ich-Erzählerin schwierige Gedankengänge an: „Plötzlich
wurde mir klar, dass das alles nicht neu, dass ich immer schon so gewesen
war. Dieses unbeschreibliche Verlangen war von Natur aus in mir.“ – MIR als
Leser wurde keinesfalls klar, woher die Ich-Erzählerin wissen kann, dass
„das alles immer schon in“ ihr war, zumal das Thema Sex hier überhaupt zum
ersten Mal in dem Roman auftaucht; Selbstbefriedigung, die vom jugendlichen
Alter her ja denkbar wäre, ist nie ein Thema. - Die Ich-Erzählerin erklärt:
ich war „bereit zu sterben“. - Ich als Leser frag mich: Warum gleich
sterben, in einer doch von GLÜCK grundierten Situation?
Wie sie in der Sex-Szene nackt wird, erfahren wir nicht, obwohl die
Ich-Erzählerin sich an ihre GEDANKEN in jener Situation – viele Jahre
später, beim Roman-Schreiben - verblüffend genau erinnert; jedenfalls
notiert sie im Roman: „Ich spürte, wie ich nackt zum Bett getragen wurde.“ –
ICH frage mich: Warum nicht einfach: „Ich wurde von ihm zum Bett getragen.“
?
Der Lehrer streichelt sie, an den „verbotensten Stellen, die nicht einmal
ich selbst zu berühren wagte.“ - Ich als Leser wundere mich erneut: von
ihrem Körper und seinen „verbotenen“ Stellen war nämlich in diesem Roman
bisher nirgendwo die Rede. WER hat ihr diese Stellen „verboten“?? – wir
erfahren nichts dazu.
Hong schreibt weiter: „mein unkontrolliertes Begehren war mir peinlich.“
(alles S. 218) – Warum ihr das eigene Begehren „peinlich“ war, erfahren wir
nicht. Die Ich-Erzählerin scheint diese Bewertung als selbstverständlich
vorauszusetzen. - Sie urteilt über sich selbst: „Ich war nichts als ein vom
Verlangen geblendetes Mädchen.“ (219). Warum sie verblendet gewesen sein
soll, erfahren wir nicht.
Das Glied des Mannes wird von ihr als „wildes Tier, das man aus dem Käfig
gelassen hatte“, empfunden – eine Empfindung, die so erklärungsbedürftig ist
wie viele andere. Eine weitere unbegründete Wertung: „einen Penis festhalten
– dass ich zu so etwas Beschämendem imstande war!“
Warum die Ich-Erzählerin beim Mann von „Penis“, beim eigenen Körper und
seinem Sexualorgan nur von „unten“ spricht, wir erfahren es nicht.
Völlig kurios folgender Satz, der ihr erotisches Glück beschreiben soll:
„Ich war vom Himmel umgeben, der Fluss brandete um mich herum und
verschluckte mich skrupellos.“
Nur wenige Tage nach diesem schönen Ereignis der Vereinigung erfährt sie,
dass sich ihr Lover per Erhängen umgebracht hat, ohne irgend einen
Abschiedsgruß an sie. Sie nimmt infolgedessen an, dass sie ihrem Lover
eigentlich schnurz-egal war. JETZT urteilt die Ich-Erzählerin über den
Geliebten total anders, sie redet ihn in Gedanken direkt an: „Du bist ein
Schweinhund, du hast mich verführt, so dass ich Sex mit dir hatte… du
wolltest leicht zu erlangende körperliche Befriedigung…. Tatsächlich waren
wir beide sehr selbstsüchtig gewesen und hatten einander nie wirklich
geliebt – so wie in meiner sogenannte Familie, in der auch nur jeder an sich
dachte.“ (273)
Mit Urteilen, vor allem Urteilen solch vernichtender Art, ist die
Ich-Erzählerin rasch bei der Hand. Als sie von ihrer Mutter beim
Zusammensein mit dem leiblichen Vater das bisherige Familiengeheimnis
gelüftet erhält, urteilt sie: Meine beiden Eltern hatten mich in ein Leben
voller Leid gesetzt, „für das beide keine Verantwortung übernehmen wollten.“
Ich wundere mich, dass die Ich-Erzählerin nicht wenigstens SPÄTER diese
Einschätzung durch die 18jährige als ungerecht beurteilt (man darf, ja: man
MUSS annehmen, dass sie auch noch nach Jahren ihre einstigen Verurteilungen
für angemessen hält.
Die Menge der Schrecknisse, die Hong erleben muss, ist mit dem Selbstmord
des Geliebten noch längst nicht ausgeschöpft. Aus der EINEN sexuellen
Vereinigung mit ihrem Lehrer wird die Ich-Erzählerin bereits schwanger. Weil
sie in ihrer Situation (ohne Ausbildung, ohne Beruf, ohne unterstützende
Familie) erwartet, dass es IHREM Kind nicht besser gehen wird im Leben als
es ihr selbst bisher erging, entschließt sie sich zur Abtreibung. Die
Schilderung dieses Vorgangs – unter ärmlichen, auch unhygienischen Umständen
– wird erneut ein Kapitel des Schreckens, ja Grauens.
Die Geschichte endet damit, dass die Ich-Erzählerin alle Brücken zu ihrer
Herkunft abbricht und sich auf den Weg nach Peking zum Literaturstudium
macht.
Es sieht so aus, auf den letzten Seiten des Romans, als ob sie ihre
Geschichte, vor allem die Schuldzuweisungen, die sie so begeistert vornimmt,
ein wenig anders sieht; sie schreibt, sie habe beim Nachdenken über ihre
bisherigen Erfahrungen weinen müssen. Aber zu einem ernsthaften Zweifel an
sich SELBST gelangt sie nicht; der Roman endet mit einigen kitschigen
Sätzen: „Eine Mundharmonika spielte, fremd und doch vertraut, der tosende
Fluß trug die Klänge herüber, so klar, wie ich sie vorher nur im Mutterleib
gehört hatte. Auf meinem regenassen Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.“
(S. 315).
Inzwischen (2013) hat die Autorin die Armutszeit ihrer Jugend weit hinter
sich gelassen. Einige Schritte des weiteren Lebens (wie man sie aus
verschiedenen Internet-Texten kombinieren kann):
Hong erhielt nach dem von ihr miterlebten Aufstand am Tor des Himmlischen
Friedens ein Stipendium für ein Studium in England. Kaum dort angekommen,
trifft sie einen einstigen Pekinger Bekannten wieder, der es inzwischen zum
Professor einer Londoner Universität gebracht hat und binnen weniger Stunden
um ihre Hand anhält; binnen kurzem kann Hong Ying in europäischem Wohlstand
leben, wird beim Schreiben und Verlagefinden von einem angesehenen
Literaturprofessor unterstützt und erntet literarische Erfolge. Nach elf
Jahren Ehe trennt sie sich, wird einige Jahre später vom nächsten
nicht-grad-armen Mann schwanger, der sie ebenfalls heiratet. Sie kann jetzt
ein angenehmes Leben abwechselnd im Westen und in China führen; ihr zweiter
Mann, so wie schon ihr erster Mann einiges älter als sie, war ein in China
erfolgreicher Geschäftsmann aus englischer Familie und ist inzwischen
ebenfalls Literat, zudem ein erfolgreicher; er feiert die Hochzeit mit
seiner chinesischen Frau (nicht seiner ersten) in schönstem italienischem
Ambiente und stellt zahlreiche Fotos davon (und auch ein wenig Text) auf
seiner Homepage zur Schau. http://www.adam-williams.net/2009/09/01/adam-williams-marries-hong-ying/
Veit Feger, Ehingen
eMail: Veit.Feger@t-online.de