"Jules et Jim" –Vorspiele, Nachspiele

Eine Mehr-Eck-Geschichte, ihre textlichen und filmischen Bearbeitungen.

Eine Autobiographie mit Widersprüchen und Seltsamkeiten, ein Nachtrag

In den Jahren 1913 bis 1933 standen ein deutsches Ehepaar (mit weiteren engen Bekannten) und ein Franzose (mit einer stattlichen weiblichen Entourage) in nicht alltäglicher Beziehung. Im Mittelpunkt der sich über zwei Jahrzehnte oder länger hinziehenden Kontakte stehen diese drei Personen – das GESAMTE zugehörige „Personal" ist umfangreicher. Die zentrale deutsche Frau und der zentrale französische Mann haben jeweils zahlreiche Geschlechtspartner, teils nacheinander, teils gleichzeitig. Die Deutsche und der Franzose, dazu der deutsche Ehemann der deutschen Frau, waren Journalisten und Schriftsteller und sie äußerten sich in Briefen, Tagebüchern, Romanen über ihre verschiedenen Beziehungen. Auch einer der beiden Söhne des deutschen Ehepaars erzählt von der „Triole", die seine Eltern mit dem Franzosen verknüpfte; er tat das in einer Autobiographie, die ein halbes Jahrhundert NACH den von ihm erinnerten Vorfällen erschien. - Spätestens seit 1950 gibt es roman-, film- oder theaterartige Gestaltungen der Beziehungskonflikte, dazu mehrere psychologisch-literaturwissenschaftliche Befassungen. – Am bekanntesten bisher wurde die künstlerische Verarbeitung des zentralen Beziehungsdramas in dem Film „Jules et Jim" von Francois Truffaut. – Den Verfasser dieser Zeilen motivierte zu dem hier vorliegenden Text vor allem sein Erstaunen darüber, wieviel Bewunderung die „Triole" auf sich zog; er teilt diese Bewunderung nicht.

Helmut Schwarzer, lange Zeit als Repräsentant deutscher bzw. amerikanischer Verlage in Deutschland und den USA tätig, ist ein intimer Kenner des hier angesprochenen Themas.  Schwarzer, inzwischen im Ruhestand in New Hampshire lebend,  machte mich im April 2010 freundlicherweise auf einige Inhalte meines Aufsatzes aufmerksam, die anders gesehen werden können oder sollten. Außerdem empfiehlt Schwarzer  einige Sekundärliteratur zum Thema. Seine Anmerkungen und seine bibliographischen Hinweis stehen am Schluss dieses Aufsatzes.

Die Namen der Dramatis Personae. Da ist einmal der Schriftsteller Franz Hessel, dessen Gesammelte Werke erst um die Jahrtausendwende, sechzig Jahre nach seinem Tod, in fünf Bänden erschienen. Des weiteren gehört zum zentralen Trio Hessels Freundin und spätere Ehefrau Helen Hessel geb. Grund, Malerin, Journalistin, Übersetzerin. Dritter im Bunde ist ihrer beider französischer Freund, der Schriftsteller und Kunsthändler Henri-Pierre Roché. Zur Entourage des Trios zählen weitere Geliebte Rochés und weitere Liebhaber von Helen. Nur von Franz Hessel ist uns eine sexuelle Mehr-Personen-Orientierung nicht bekannt.

Die französischen Freundinnen oder Ehefrauen von Pierre Roché scheinen keine schriftlichen Dokumente über ihre Beziehung zu Pierre hinterlassen zu haben.. Ein später Zeuge einer der zahlreichen Beziehungsdramen im Trio Helen / Franz / Pierre ist Stéphane Hessel, der Sohn von Helen und Franz, geboren 1917. Er äußert sich über die drei Zentralpersonen in seiner Autobiographie „Tanz mit dem Jahrhundert" (Piper 2000, deutsche Erstausgabe Arche Zürich 1998, französische Erstausgabe 1997 Editions du seuil, Paris). – Ehemann Franz Hessel hat in seinem Roman „Pariser Romanze" ein wenig über seine Frau Helen geschrieben; in diesem Roman firmiert Helen als „Lotte". - 1953 erschien der Roman des Schriftstellers Henri Pierre Roché (1879-1959) mit jenem Titel, „Jules et Jim", mit dem später auch der Film des Regisseurs Truffaut weltberühmt wurde. - In den 90er Jahren erschienen – bisher nur auf Französisch – die Tagebücher von Helen Hessel, in deren Mittelpunkt ebenfalls jener Mehreck-Konflikt steht.

Nicht-literarische Behandlungen der Mehreck-Geschichte stammen von Manfred Flügge (Hg.) „Letzte Heimkehr nach Paris. - Franz Hessel und die Seinen im Exil" (Verlag „Das Arsenal", Berlin 1989); der Essay „Der Mythos einer Amour fou zu dritt" von Helmut Merschmann, in „Im Dreieck", Suhrkamp 1999, und eine umfangreiche Doktor-These des Lyoner Literaturwissenschaftlers Xavier Rockenstrocly. Letzterer vollendete 1996 seine 270 Seiten starke Doktor-These über den Schriftsteller Roché, die Mehreck-Geschichte und ihre literarischen und filmischen Weiterungen; diese Thèse ist im Internet vollständig abrufbar. - Im Jahr 2000 (2. Auflage 2002) erschien ein Buch der in Berlin lebenden Journalistin und Schriftstellerin Ute Scheub, „Verrückt nach Leben", das sich ausgiebig mit Helen Hessel und ihrer Entourage befasst. Auf Inhalte dieses Buchs gehe ich in einem Kapitel am Schluss meines Textes ein.

Xavier Rockenstrocly notiert, er sei durch die Kenntnis des ihn begeisternden Films „Jules et Jim" (1962) auf sein Thema Hessel/Roché gestoßen. Regisseur Francois Truffauts Quelle für seinen Film war der in den 50er Jahren erschienene Roman gleichen Titels von Roché; Truffaut hatte den Roman Jahre nach dessen Erscheinen zufällig bei einem Pariser Bouquinisten aufgetan. Jeanne Moreau spielte in seinem Film die Hauptrolle. Der Film profitierte von Moreaus Bekanntheit und förderte anderseits diese Bekanntheit.

Der Autor Roché erlebte die Fertigstellung des Films nicht, sehr wohl aber seine einstige Geliebte Helen Hessel; sie starb in den 70er Jahren (hochbetagt hat sie noch Nabokovs erotisch gefärbten Bestseller-Roman "Lolita" aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt). Ihre letzten Lebensjahre waren von Not gekennzeichnet; sie arbeitete zeitweilig als Haushaltshilfe in den USA.

Dem französischen Schriftsteller Roché standen für die Arbeit an seinem Roman „Jules et Jim" (gemeint: er selbst und sein Freund Franz Hessel) die Tagebücher von Helen Hessel zur Verfügung. Helen (im Roman und im Film „Kathe") hatte diese Tagebücher Roché auf dessen Bitten hin übereignet. Diese Tagebücher erschienen, wie bereits notiert, im Druck erst ein halbes Jahrhundert später („Journal d‘ Helen. Lettres à Henri-Pierre Roché"); diese Tagebücher sind größerenteils auf Französisch geschrieben; ab und zu wechselt Helen Hessel auch ins Deutsche und Englische.

Im Jahr 1991 wird in „France Culture" der Spielfilm „Jules, Jim et Kathe" von Blandine Masson gesendet; 1995 folgt ein Fernsehfilm „Jules et Jim" von Jeanne Labrune. „L‘histoire vraie de Jules et Jim" ist ein Dokumentarfilm von Elisabeth Weyer, 1993 von „Arte" und dem Hessischen Fernsehen gesendet. - Die künstlerische Gestaltung der Mehreck-Ggeschichte in Filmen erreichte sehr viel mehr Menschen als die literarische und literaturwissenschaftliche Ausarbeitung.

Im Jahr 2003 lud der Lyoner Hochschulprofessor Rockenstrocly zu einem Kongress zwecks weiterer Erforschung der „Jules-Jim-Geschichte" ein; Kongress-Ort war jene südfranzösische Stadt, in der während der Vichy-Zeit Henri Pierre Roché als Lehrer gelebt und den Roman zu schreiben begonnen hatte.

Die jüngsten „Bearbeitungen"

Die - soweit mir bekannt – vorletzte mediale Verarbeitung der Mehrecksbeziehung war im Jahr 2004 ein „Hörbild", erstmals aufgeführt in Berlin. Die Schriftstellerin Ulrike Voswinckel verfasste den Text für dieses „Hörbild" mit dem Titel „Exakte Vision", die Komponistin und Pianistin Ulrike Haage schrieb die Musik.

Die - soweit mir bekannt – JÜNGSTE mediale Verarbeitung ist ein Hörbuch, erschienen 2005, in einem Hamburger Verlag, mit Ausschnitten aus dem 1953 erschienen Roman von Roché, gelesen von Eva Mattes (3 CDs, Gesamtlaufzeit 225 Minuten). – Im Jahr 2005 erschien bei „Zweitausendeins" die DRITTE deutschsprachige Auflage von Rochés Jules-et-Jim-Roman.

Am 10. Mai 2005 fand in Berlin ein Symposium statt zum Gedenken an „Schriftsteller im Exil" und Menschen, die ihnen halfen. An EINEM Podiumstisch saßen dabei der Sohn von Helen und Franz Hessel, Stéphane Hessel, der sich – in Erinnerung an das Schicksal seines im Dritten Reich wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgten Vaters - für Flüchtlinge in Frankreich, insbesondere die sogenannten Sanspapiers, engagiert, und der neben Stéphane Hessel wohl kundigste Deutsche in Sachen „Franz / Helen / Jean Pierre", der in Berlin und Paris lebende Schriftsteller und Übersetzer Manfred Flügge.

So erstreckt sich eine „erotische Geschichte" aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderte und deren mediale Weiterbearbeitung über beinah hundert Jahre.

Hinzu kommt nun auch der Essay, den Sie hier lesen J .

Wichtige Jahreszahlen zur „Menage à beaucoup"

Franz Hessel (1880 – 1941) kam 1907 (andere Quelle: 1906) nach Paris und lebte dort mit Unterbrechungen mehrere Jahre. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er unter anderem als Lektor, Übersetzer und Herausgeber bei Rowohlt. - 1913 lernten die bereits seit Jahren befreundeten Paris-Bewohner Hessel und Roché die ebenfalls gerade in Paris lebende Kunststudentin Helen Grund kennen; Franz Hessel heiratete Helen kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs. NACH dem Krieg trafen sich das Ehepaar Hessel und der Franzose Roché erneut, diesmal in Hohenschäftlarn / Bayern, in der Folge auch an anderen deutschen Orten (Berlin, Weimar) und in Paris. In Hohenschäftlarn wurde die Beziehung Helen Hessel / Roché heftig.

Das Ehepaar Hessel zog mit seinen beiden Kindern zeitweilig nach Paris, wo sich Helen und Roché (mit seinem Hauptwohnsitz Paris) weiterhin häufig trafen. In der gesamten Bekanntheitszeit pflegten sowohl Helen wie Henri-Pierre Sexualkontakte mit einer Reihe WEITERER Personen. Immer wieder kam es zu Streit zwischen Roché und Helen wegen zeitgleicher Beziehungen BEIDER zu Personen AUSSERHALB der Triole. Zu Streit führten auch widersprüchliche Forderungen zwischen R und H: einerseits „Bitte ein Kind!" andererseits: „Bitte KEIN Kind; treib ab!".

Franz Hessel und Helen ließen sich scheiden. Franz verabschiedete sich aus der Menage à beaucoup und aus Paris, endgültig Ende der 20er Jahre, neuer Wohnort: Berlin. Mit Franz ging der eine seiner beiden Söhne, Ulrich, geboren 1914: Der andere Sohn, Stéphane, blieb bei der Mutter in Paris. Sohn Ulrich flüchtete in der Zeit der NS-Judenverfolgung aus Berlin zur Mutter nach Frankreich.

1933 kam es - nach vielen kleineren Krächen, die teils mit physischer Gewalt ausgetragen wurden – zum großen FINALEN Krach zwischen Helen Hessel und ihrem Liebhaber Roché (siehe dazu weiter unten).

Ende der 30er Jahre rettete Helen ihren von den deutschen Antisemiten bedrohten früheren Ehemann durch eine zweite Heirat aus Berlin nach Frankreich. Freilich war Franz Hessel in Frankreich kein langer Friede vor Verfolgung beschieden: Deutsche Soldaten und damit die NS-Verfolger rückten in Frankreich ein. Der von der Flucht nach Frankreich und dann in dessen Süden erschöpfte Franz Hessel starb 1941 in einem Ort an der Cote d‘ Azur.

Nach der Befreiung Frankreichs schreibt Roché seinen Roman „Jules et Jim" zu Ende. Dieser erscheint Anfang der 50er Jahre. Anfang der 60er folgt dann der Film mit Jeanne Moreau, Mitte der 90er die informative Thèse von Rockenstrocly, 2003 der bereits erwähnte Kongress etc. etc.

Zu den Erinnerungen des Sohnes Stéphane

Zurück zu Stéphane Hessel und zu seiner Autobiographie, die MICH auf das Thema „Jules et Jim et Kathe" aufmerksam gemacht hatte. In einem Buchladen hatte ich den Klappentext zum ungewöhnlichen Buchtitel „Tanz mit dem Jahrhundert" gelesen. Da hieß es: Der Autor Stéphane Hessel, geboren 1917, sei der Sohn einer deutschen Malerin und Journalistin und eines deutschen Schriftstellers. - Letzterer, Franz Hessel, war mir namentlich bekannt; von ihm hatte ich früher schon die „Pariser Romanze" erworben und ich erinnerte mich, dass Walter Benjamin ein Hessel-Buch wohlwollend besprochen hatte. Ich las im Klappentext auch, dass Stéphane Hessel in seiner Autobiographie aus einem „farbigen" Leben erzähle: Er war jung nach Frankreich gekommen, schaffte die Aufnahmeprüfung zur Ecole Normale, wurde französischer Staatsbürger und später Mitglied der Resistance, wurde als solcher von Deutschen inhaftiert und ins KZ Buchenwald überstellt; er überlebte diese lebensbedrohliche Zeit dank der Mithilfe des damals ebenfalls inhaftierten, später als SS- und KZ-Erforscher berühmt gewordenen Erich Kogon und wurde später in Frankreich ein ranghoher Diplomat, tätig bis kurz vor Ende des 20. Jahrhunderts.

Nach der Lektüre des Klappentexts war ich neugierig geworden und schaute mir die Hessel-Autobiographie näher an.

Der Sohn schildert Mutter und Vater

Sohn Stéphane erzählt von seiner Mutter Helen, sie sei eine Schönheit gewesen, zudem klug, gebildet, eigenwillig. Der Sohn berichtet des weiteren von der Eheschließung seiner Mutter mit Franz Hessel (aus welcher Beziehung er selbst hervorging) und von der Ménage à trois mit dem französischen Hausfreund und Schriftsteller Roché. Der Ehemann habe dieser Liaison die meiste Zeit wohlwollend zugesehen, er empfiehlt, laut Sohn, seiner Ehefrau zudem, sie solle ihre amourösen Erlebnisse NOTIEREN.

(Kleiner Exkurs zu F. Hessel: Hessel selbst war zu Anfang des Jahrhunderts in München Lover einer der erotisch ungewöhnlichsten deutschen Frauen, der Schriftstellerin Fanny von Reventlow. Diese libertin lebende Romanautorin aus schleswig-holsteinischem Adelsgeschlecht vertrat ihre Theorie der freien Liebe öffentlich am entschiedensten in einem Aufsatz über „Modernes Hetärentum", erschienen in einer von Oskar Panizza herausgegebenen Zeitschrift in Zürich. Vielleicht, so vermute ich, hat das Erlebnis „Fanny von Reventlow" zu Franz Hessels Generosität gegenüber dem freizügigen Lebensstil seiner Frau beigetragen. Franz Hessel wird von verschiedenen Zeitgenossen als überaus liebenswürdig, freundlich, lieb, hochgebildet, geschildert. Sein Ideal-Lebensstil war der des - eher einsamen - Flaneurs. Als solchen feiert Walter Benjamin seinen Freund Franz Hessel Ende der Weimarer Republik.)

Franz, so erzählt sein Sohn Stéphane weiter, verabschiedete sich aus der Ehe mit Helen (und damit aus einer Ménage à trois oder beaucoup) und kehrte Ende der 20er Jahre aus Paris nach Berlin zurück. Er habe gewusst, so der Sohn, dass er gegenüber H. P. Roché den kürzeren ziehe; er wollte auch nicht mit seinem Freund Roché um den Besitz von Helen kämpfen.

Mit der oft behaupteten Libertinität von Helen und Roché ists nicht weit her

Stéphane erzählt in eher bewunderndem Ton von der Art, wie seine Mutter ihre Beziehung zu Roché beendet: Helen versuchte, ihren Lover mit einer Pistole zu erschießen; Roché konnte das verhindern. - Trotz dieses Mordversuchs feiert der Sohn seine Mutter als souverän und libertin.

Zu den Zelebrier-Stellen in der Autobiographie zählt auch folgender Satz des Sohnes: „Helen hat mir eine hochmütige Geringschätzung konventioneller Moral vermittelt". Ohne sich und dem Leser den Widerspruch zu dieser wenige Seiten zuvor gegebenen Zelebration der Mutter klar zu machen, erzählt Stéphane, wie seine Mutter auf die Nachricht des Betrogenwordenseins reagiert, nämlich gar nicht libertin, vielmehr ganz herkömmlich. Die Passage: "Anfang der 30erJahre hatte in ihrer (sc. Helens) Beziehung zu Roché eine stürmische Phase begonnen. Jahre der Hoffnungen und Enttäuschungen, Zurückweisungen und Neuanfänge, die in einer relativ morbiden Trennung gipfeln sollten. An jenem Tag im Juli 1933 hatte Helen erfahren, dass Roché nicht nur heimlich Germaine (sc: seine langjährige Zweitbeziehung) geheiratet, sondern auch mit ihr einen Sohn hatte. Helen wurde wütend; es kam zu einer brutalen Szene: Helen bedrohte Jean Pierre mit einem Revolver; dieser boxte sich, von Panik ergriffen," frei. Der Sohn feierlich: „Am Ende dieser Auseinandersetzung beschloss sie, ihn nie wiederzusehen. Daran hat sie sich strikt gehalten." (S. 36). –

Der Verfasser dieses Essays meint: Hier wäre eigentlich Kritik angebracht an einer Frau, die unfähig war, ihre gepriesene „Geringschätzung konventioneller Moral" im ERNSTfall zu beweisen. (Ich fühlte mich hier an die Anarchistin Emma Goldman erinnert: Diese trat in zahlreichen Vorträgen und Zeitungstexten gegen die bürgerliche Zweierbeziehung, die Ehe, auf, die sie als SKLAVEREI brandmarkt; sie trat für die Freie Liebe ein. Als sie mitkriegt, dass ihr Geliebter Ben Reitman fremdgeht, überschüttet sie ihn jahrelang mit Vorwürfen.)

Stéphane Hessel ist eine unbefriedigende Quelle

Die Darstellung der erotischen Beziehungen Helens durch ihren Sohn Stéphan in dessen Autobiographie ist kursorisch und apologetisch. So gab es schon Jahre VOR Helens Pistolenschieß-Versuch in der Beziehung zu Roché sowohl Untreue wie physische Gewalt. Laut Rockenstrokly war es an der Tagesordnung (!), dass Helen und Henri-Pierre sich so stritten, dass die Fetzen flogen, und dass sie anschließend eine Liebesnacht begannen. Kurz: Es wurde in dieser Ménage à beaucoup viel gelogen, antichambriert, beschimpft, geschlagen, Treue und Untreue „getestet" (wörtlich), der Partner gewechselt etc. etc.

Helen und Henri Pierre hatten viele Freunde

Außer zu den bereits genannten Personen hatte Helen Hessel in den fraglichen Jahren zwischen 1913 und 1933 auch enge Beziehungen (vermutlich unter anderen) zu dem Schriftsteller Thankmar von Münchhausen (nicht zu verwechseln mit einem derzeitigen FAZ-Redakteur gleichen Namens), zu einem Landwirt, auf dessen Hof sie in der Notzeit unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs arbeitete, zu einem Kunsthändler, Paul Huldschinsky („Ulhe"), der Bilder zum Weiterverkauf für Roché beschaffte, und eine Beziehung zu dem damals in Hohenschäftlarn / Oberbayern wohnenden Archäologen Hubert Koch (Vom dem sei sie schwanger, teilte Helen zwecks Provokation ihrem Lover Roché mit).

Es kam vor, dass Helen ihren offiziellen Ehemann aus dem gemeinsamen Schlafzimmer verwies, damit sie die Nacht mit Roché im EHEbett verbringen konnte. Andererseits kam es auch vor, dass alle drei, also Franz, HP und Helen, GLEICHZEITIG miteinander verkehrten, es kam vor, dass zwei von den drei miteinander agierten und der dritte zusah, auch, dass Helens Schwester Johanna das Liebespaar Helen und HP während des Liebesakts zeichnete. - Helens Herzensfreund Roché hatte nicht nur zu jeder Zeit seinen Pariser „Harem" (zu dem anscheinend zeitweilig auch die Malerin Marie Laurencin gehörte), er befasste sich auch während der Beziehung zu Helen intim mit der in Marburg lebenden Deutschen Luise Bücking (genannt „Wiesel") , mit der Schwester von Helen, Johanna; er tat neue Freundinnen auf, Anfang der 30er Jahre hieß seine französische Hauptfavoritin (laut Sohn Stéphane) Germaine. –

Die präzise Untersuchung von Rockenstrocly (vor allem aufgrund von Helens Tagebüchern) erlaubt es, die verschiedenen Ausreden, die inneren Verrechnungen, kennenzulernen, mit denen beispielsweise Roché vor sich selbst eine sexuelle Untreue umdeutet zu einem Akt der TREUE!: Er schlafe mit einer anderen Frau nur, um sich die Superiorität seiner Freundin Helen zu beweisen; der Kontakt mit einer anderen Frau als Helen sei eine „Facon d’aimer Helen". - Umgekehrt kommt es auch vor, dass Helen für ihren Geliebten zwei Frauen beschafft, die sich ihm anbieten – angeblich, damit Helen das Verhalten ihres Geliebten PRÜFEN kann.

Der eine Lover darf sichs leisten, der andere nicht

Als Begründung, warum die Ehe Helen/Franz einen schlimmen Schlag erhalten habe, zitiert Rockenstrocly die Aussage Helens, dass Franz bei Beginn des Ersten Weltkriegs sofort zu den Soldaten gegangen sei und sie mit dem wenige Tage vor Kriegsbeginn geborenen Kind allein gelassen habe. (Rockenstrocly notiert in diesem Zusammenhang leider nicht, dass auch Roché sich mindestens einmal eines solchen Ruck-zuck-Verlassens schuldig machte, während Helen von ihm schwanger war. Aber ROCHES Feigheit tat seiner Stellung bei Helen KEINEN Abbruch. Wir müssen sagen: Helen Hessel maß ihre Verehrer mit ZWEIerlei Maß. Wenn man das bedenkt, wirkt Helens Rechtfertigungssatz „Franz ließ mich mit meinem Neugeborenen sitzen" obsolet).

Wettstreit der Gebärerinnen....

Bei Rockenstrocly wird unter anderen Freundinnen auch eine „Guitte" erwähnt; diese habe Roché mit einer Jeannot bekannt gemacht. Als Geliebte genannt wird auch die Frau eines amerikanischen Kunsthändlers, für den Roché in Paris Bilder aufkaufte (und damit seinen Lebensunterhalt finanzierte). Sie kommt im Roman „Jules et Jim" als die künftige Mutter seiner noch zu zeugenden Kinder vor. Eine Roché besonders treue französische Freundin heißt „Mno". Sie akzeptiert die meisten Eskapaden ihres Freundes. Sie hat freilich das Pech, dass sie ihm zuliebe abgetrieben hat, weil er KEIN Kind wollte, und dass sie dann später keines mehr kriegen konnte; eine erneute Schwangerschaft wäre lebensgefährlich gewesen. Ohne Kindgebär-Chance aber hatte Mno schlechte Karten, als zwischen den verschiedenen Roché-Freundinnen ein Wettkampf darüber ausbrach, wer ihm endlich den angeblich erwünschten Sohn schenkt. - Ein beliebtes „Spiel" im Fall „schwanger – nicht schwanger" ist bei den vielen Männer-Kontakten Helens naturgemäß die Frage, von WEM nun das nächste gerade annoncierte Kind stammt. Mehr als zwei Kinder insgesamt brachte Helen nicht zur Welt; hingegen trieb sie mindestens dreimal Kinder ab; eines der abgetriebenen Kinder stammte anscheinend von ihrem offiziellen Ehemann. Nachdem sie zu diesem aber kein emotionales Verhältnis mehr hatte (so ihre Aussage), wollte sie – so heißt es – von ihm nicht noch ein drittes Kind. Eines der beiden existierenden Kinder stammte möglicherweise von Roché; der nahm das jedenfalls an.

... und Flucht des Erzeugers

Was das Ziel „Kinder mit Helen" betrifft, zeigt Roché (laut Rockenstrokly) ein für mein Empfinden BESCHÄMENDES Verhalten (was ihn aber bei Helen keine Sympathien kostet): Solang seine Freundin NICHT schwanger ist, wünscht Pierre ständig „endlich Kinder!"; er drängt Helen, sich von Franz scheiden zu lassen, damit SEIN leiblicher Sohn in seiner EIGENEN Ehe zur Welt kommt und SEINEN Namen erhält, nicht – wie schrecklich! - den von Franz. Ist der Junior aber dann TATSÄCHLICH „unterwegs", so flüchtet der Erzeuger nach Paris.

Es gibt das beliebte Fragespiel: „Wer ist der Vater?". Und es gibt auch das Spiel: „Kann Roché überhaupt zeugen?". Schließlich hat Helen ihre Gebärfähigkeit in jener Zeit bereits zweimal nachgewiesen, Roché aber nicht. So testen Helen und Henri Pierre einmal die Zeugungsfähigkeit von Henri Pierre – oder genauer: sie meinen, sie könnten das (Rockenstrokly: „Roché subit un examen pour vérifier qu’il n’est pas stérile." Wie dieser Test durchgeführt wird, erfahren wir leider nicht).

Es kommt auch vor, dass HP von seiner Freundin Helen die Erlaubnis einholen will, dass seine französische Freundin Mno ein Kind von ihm kriegen darf. ...

Noch etwas Kritik an der Autobiographie Stéphane Hessel

Was mich an Stéphane Hessels Buch außer der intransigenten Verteidigung seiner Mutter mit wenig stichhaltigen Argumenten frappierte, war, dass seine Mutter, die er an anderem Ort als sagenhaft souverän schildert, über Jahrzehnte hin sich NICHT damit abfindet, dass ihr Sohn, ohne die Mutter zu unterrichten, die Tochter einer russischen Emigrantenfamilie heiratet. Der Sohn schreibt, seine Mutter sei drei Jahrzehnte lang auf ihre Schwiegertochter schlecht zu sprechen gewesen. Ich frage mich da: Warum nicht auf den SOHN? Der war ihr mehr verpflichtet als die Schwiegertochter. - Der Sohn beschreibt auch dieses unsouveräne Verhalten der Mutter in einem Ton fernab jeder Kritik: Der Umstand, dass die Mutter die Schwiegertochter schneidet, beschädigt das schöne Bild der Mutter in der Seele des Sohnes nicht.

Nicht zur Helen/Roché-Geschichte gehört eine andere Einzelheit, die Stéphane in seiner Autobiographie schildert: Bei seiner späteren langjährigen Ehefrau musste er sehr lange warten, bis sie zu einer geschlechtlichen Vereinigung bereit war; man darf annehmen, die Vereinigung sei erst in der Hochzeitsnacht erfolgt. – Dies ist um so erstaunlicher, als der 17-jährige Stéphane kurz, bevor er sich in seine spätere Ehefrau verliebt, von einer erwachsenen Frau (einer Schwägerin von Aldous Huxley) in „die Liebe" eingeführt wurde („mit sehr viel Takt, Intelligenz und Zärtlichkeit"). Stephane kommentiert diesen Vorgang so: „Ich verdanke (dieser Frau) mehr, als ich sagen kann. Diese Liaison... weckte in mir die Freude am freien Spiel der Körper fernab jeglichen Zwangs zur Treue." – Beim Lesen dieser Eloge frage ich mich: Wie stellte sich seine spätere, anscheinend sehr keusche EHEFRAU zu diesen libertinen Prinzipien ihres Ehemannes?? Darüber erfahren wir nichts. - An einer anderen Stelle der Erinnerungen Stéphanes heißt es, dass der Name seiner Ehefrau für ihn der wichtigste, emotional reichste in seinem Leben gewesen sei. Aber in den immerhin 400 Seiten umfassenden Lebenserinnerungen ist dann von dieser tollen Ehefrau nur im Umfang einiger ZEILEN die Rede. Dabei muss diese Frau ein bemerkenswerter Mensch gewesen sein; sie schrieb und veröffentlichte immerhin zwei Romane. in der Autobiographie des Ehemannes erfahren wir nicht einmal deren Titel, geschweige sonst etwas von der produktiven Seite dieser Frau; die auch drei Kinder zur Welt brachte und großzog. Sehr VIEL hingegen erfahren wir über die Botschafter-Tätigkeit des Ehemannes. Kurz: In dieser Autobiographie wird nicht deutlich, warum die Ehefrau eine so hohe Bedeutung für ihren Ehemann gehabt haben soll. Man hat Anlass, das Gegenteil der stephane‘schen Beteuerungen anzunehmen. –Der ungute Eindruck verstärkt sich, wenn der Autor vom STERBEN seiner Frau erzählt. Diese war vor ihrem Tod längere Zeit krank, was ihren Mann aber nicht – wie er mit dem Ton des Bedauerns äußert – von seinen zeit- und reise-aufwendigen politischen Engagements abhielt. Drei Wochen vor dem Tod der Ehefrau stand fest, dass sie bald sterben würde. Stephane: „Seit langem schon war ich mir dessen, was uns vereinte, allzu sicher gewesen und hatte diese Gewißheit insofern missbraucht, als dass ich zu vielen anderen Dingen einen Platz in meinem Leben einräumte: der Übernahme zu vieler Missionen und zu vieler Verpflichtungen und der – verheimlichten - Fortsetzung einer anderen Liebe." - Das ist ein deprimierendes Fazit. - Fairerweise muss gesagt werden, das Stéphane Hessel selbst dieses Fehlverhalten bekennt macht.

S. Hessel stirbt im Frühjahr 2013. Zuvor erfahren wir noch einiges über sein Leben

Große Teile dieses Essays wurden Ende der Nuller Jahre des neuen Jahrhunderts geschrieben;  dieses  Kapitel hier wurde im Sommer 2013 eingefügt.

Im Frühjahr 2013 teilte die zweite Ehefrau Hessels, Christiane geborene  Chabry,  der Öffentlichkeit mit, ihr Mann sei gestorben. Das war  nach 26  Jahren Ehe. Die Todesnachricht  dürfte das letzte Mal dazu geführt haben,  dass die Medien dem Autor und öffentlichen Menschen  Stéphane  Hessel besondere Aufmerksamkeit widmeten.

Nach der Veröffentlichung der dicken Autobiographie Hessels,  1997 auf Französisch, 1998 erstmals auf Deutsch,  war  es ruhiger um den berühmten Diplomaten geworden. Geradezu  plötzlich, im Herbst  2010,  erhielt  Hessel durch die Veröffentlichung von "Indignez-vous!" (Deutsch: "Empört euch", inzwischen in vierzig Sprachen übersetzt) und infolge der begeisterten Reaktionen auf diesen Essay  in Frankreich, Europa und anderen Ländern  eine unwahrscheinlich große Publicity, wie wohl nie zuvor in seinem Leben, eine Publicty, die auf dem Weg über Interviews auch einiges mehr von Hessels  PRIVATleben bekannt machte. Mehrere  Interviewer wollten einen Bezug von Stéphane zu seinem   literarisch produktiven  Elternpaar Helen und Franz und deren Freund Roché herstellen; bekanntlich waren die drei ein  amouröses Trio mit nachfolgender literarischer "Verarbeitung";   auch   Stéphane Hessels ERWACHSENENleben geriet jetzt in den Focus medialer Neugier. Wir erfuhren jetzt mehr darüber, wovon Hessel in seiner Autobiographie fast nur mit der verhüllenden Formulierung "verheimlichte Fortsetzung einer anderen Liebe"  gesprochen hatte.  - In Interviews, in denen der neue Medienstar Hessel befragt wurde,  erfahren wir, dass Stéphane schon zu Zeiten seiner ersten Ehe eine langwährende Liaison mit Christine Chabry gepflegt hatte. vf meint: Da kann man sich dann schon erklären,  dass dem Lover Stéphane  die Schwerst-Erkrankung der eigenen Ehefrau entging.... - Nun  wird auch die aufgesetzt wirkende Würdigung von Ehefrau Nummer 1 in der Stéphanschen Autobiographie  eher verstehbar:  diktiert von einem schlechten Gewissen.....

Hessel sah in den vor allem in den Jahren 2011 und  2012  geführten Interviews   Bedarf, seine (ehelich-außereheliche) Doppel-Liaison (vielleicht auch Mehrfach-Liaisonen) zu rechtfertigen.  Er tat das mit Verweis auf seine Mutter, die ja auch mit mehreren.... - Der Verfasser dieses Aufsätzchens meint:  "Schön,  wofür Eltern  noch lange nach dem Tod nütze sind!:-)" 

Ein großer Verehrer Hessels ist der deutsche Schriftsteller Manfred Flügge; Flügge gab  wegen einer Neigung zu literaturbezogener Recherche und Publizistik  eine universitäre Karriere auf. Flügge veröffentlichte 2012 im Berliner Aufbau-Verlag eine  zweihundertsiebzigseitige  Eloge auf Hessel; schon im Titel des Buchs verknüpft Flügge  Hessels Namen mit den hymnischen Worten "ein glücklicher Rebell".    - KRITIK  an seinem Heros Hessel übt Manfred Flügge fast nur, wenn dieser  (wie in "Indignez-vous") die israelische Palästina-Politik kritisiert; hier wird Flügge richtig kritisch  und wirft seinem Freund Stéphane vor, dieser habe "eine Schärfe und eine gewisse Portion Hass in die Debatte gebracht, die bedauerlich ist" (221).

Generös,  im Ton einer Eloge, behandelt Autor Flügge  Hessels Liebesleben: Dass Hessel nicht monogam lebte, formuliert Flügge in schwüler Wortwahl so:  "in der Liebe ist er kein Monotheist. Er spricht von seiner 'Liebesarchitektur' mit nur wenigen Abenteuern, aber doch einer zeitweiligen Trennung von seiner ersten Frau, die auch ihrerseits Freunde hatte." (S. 253).

Flügge zitiert ein Interview, das die "Süddeutsche Zeitung" mit Hessel führen ließ; Hessel gesteht darin eine "fatale Neigung zum Lügen, die sich nicht leicht überwinden lasse. Wenn man zwei Frauen liebe, was durchaus passieren könne, dann müsse man eben lügen. Zu lügen sei besser als Schwierigkeiten zu bekommen. Man wolle ja auch manchmal den anderen nicht enttäuschen. Diplomaten müssten lügen können, sonst könne man keine Diplomatie betreiben" ....  Lügen im PRIVATbereich wird hier durch Verweis auf die DIPLOMATIE salviert.

Manfred  Flügge hätte sich so gut  wie der von ihm verehrte Stéphane Hessel an ein Detail der Liebesgeschichte von Helen Hessel  erinnern können, ein Detail, das zentral mit  Lüge  zu tun hat. Mama Helen Hessel richtete sogar einen Revolver auf den von ihr angeblich heißgeliebten  Henri-Pierre Roché, weil ihr dieser verschwiegen hatte, dass er mit einer ANDEREN Frau ein Kind gezeugt hatte  und alimentierte. Nachdem die laut Sohn Stéphane und Ehemann Franz angeblich so souveräne, libertär gesinnte Helen von diesem Sohn Jean-Claude ihres Lovers Henri-Pierre Roché erfahren hatte, schwor sie (erzählt  Sohn Stéphane), ihren Lover nie mehr im Leben sehen zu wollen, und, so der Sohn in bewunderndem Ton weiter, sie habe das auch durchgehalten. Als ob das eine besondere Leistung wär,  was eine menschenübliche emotionale (und zugleich eben auch nicht-libertine)  Reaktion ist.....

 

Zur deutschen Publikationsgeschichte von „Jules und Jim"

Der Verlag „Zweitausendeins" hat den Roman „Jules und Jim" bereits einmal Mitte der 80er Jahre herausgebracht; derzeit sind Exemplare jener ersten Auflage im Internet bestellbar für Preise ab 4 Euro. - Schon in den Achtzigern wurde „Jules und Jim" auf Deutsch zusammen mit einem anderen Roman von Roché veröffentlicht, zudem versehen mit einem Nachwort des Schriftstellers und Professors an der Berliner Schauspielschule Klaus Völker.

Mitte der 90er Jahre brachte der Berliner Aufbau-Verlag erneut „Jules und Jim" heraus, jetzt, wieder zehn Jahre später, legt „Zweitausendeins" den Roman wieder auf. (Diese Publikationsgeschichte wird von „Zweitausendeins" nicht notiert; man gewinnt den Eindruck: „Zweitausendeins" will die Publikation als etwas NEUES verkaufen und insbesondere niemand darauf aufmerksam machen, dass man das Buch bereits im Internet erwerben kann).

Ein Klappentext mit typischen Nachteilen

„Zweitausendeins" wirbt im Jahr 2005 für das Buch mit der Schlagzeile „Zwei Lieblingsromane von Truffaut" und mit den Sätzen Truffauts: „Jules et Jim" sei „einer der schönsten modernen Romane, die ich kenne. Er zeigt uns, wie sich zwei Freunde und ihre gemeinsame Gefährtin dank einer ästhetischen und neuen Moral, die immer wieder überdacht wird, ein Leben lang in zärtlicher Liebe zugetan sind." - Meines Erachtens ist fast jede der Truffaut‘schen Behauptungen unrichtig: Der Roman verdankt zahlreiche seiner Konflikte dem Umstand, dass weit MEHR Personen involviert sind als nur Jules, Jim und ihre Freundin Kathe. Die von Truffaut behauptete „Moral" wird nirgendwo EXPLIZIT dargestellt, allenfalls mal in Halbsätzen. - Dass diese Moral NEU sei, ist Unsinn; es gab sie auch schon im 18. Jahrhundert und auch schon der mittelalterliche Rosenroman vertritt sie.- Unsinn ist, dass diese Moral im Roman „immer wieder überdacht" werde. - Unsinn ist, dass die drei Personen einander „ein Leben lang in zärtlicher Liebe zugetan" sind. - Im Roché‘schen Roman wird öfters kräftig zugeschlagen: Teils ist Kathe die erste, die mit Zuhauen beginnt, teils Jim.. Der Hit ist folgender Verlauf: Kathe erzählt Jim gerade amüsiert und stolz, dass sie fremdgegangen sei, Jim schlägt sie; daraufhin wirft sich ihm Kathe an den Hals: Wunderbar, endlich mal ein Mann, der mich schlägt! - (Mit fällt dazu der Goethesche Satz ein: „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich."

Mich empört insbesondere, dass Kathe, vereinzelt auch Jim, absichtlich fremdgehen, um sich am Partner zu RÄCHEN. Das bedeutet: Hier wird ein DRITTER dazu missbraucht, um Beziehungskämpfe zwischen anderen Personen auszufechten. Zum Schluss des von Truffaut so hoch gepriesenen Romans der Zärtlichkeiten bringt Kathe ihren Freund Jim vor den Augen des Freundes und offiziellen Ehemannes Jules um und sich selbst mit, indem sie Jim in dem ihr zuvor von Jim geschenkten Auto in die Seine steuert.

Das Wichtigste aus dem Inhalt von „Jules et Jim", plus Kommentar

Ein deutscher und ein französischer Schriftsteller lernen sich in Paris kennen und verknüpfen sich in einer jahrzehntelangen Freundschaft. Sie sind - in ihrem SELBSTverständnis – nicht reich, aber – komischerweise – haben sie immer genügend Geld für weite Reisen - wie sie sich zu jener Zeit nicht einmal ein Prozent der französischen oder deutschen Bevölkerung leisten konnte, und genügend Geld für viel Faulenzerei. Sie können ihre – kleinen - Konflikte mit Herzlichkeit und Vernunft lösen. Beide Männer haben zahlreiche Amouren. - Der Deutsche, Jules, verliert seine Ehefrau, die Künstlerin und Schriftstellerin Kathe, an den französischen Freund. Jules hat gegen diesen Wechsel seiner Frau nichts einzuwenden, weil er andernfalls befürchtet, dass er seine sehr lebhafte und eigenwillige Frau an ihm unsympathische ANDERE Bewerber verlieren würde. - Kathe hat neben ihrer Beziehung zu Jim weitere Amouren. Amouren dienen nicht nur dazu, neue Menschen kennenzulernen oder vielleicht neue Sex-Genüsse, sondern auch dazu, sich am Partner zu rächen, von dem man annahm, er sei fremdgegangen. - Jim und Kathy hätten gern gemeinsame Kinder. Sie versuchen über Jahre, eines zu zeugen, aber ohne Erfolg. - Zum Schluss des Romans liiert sich Jim mit einer Französin, die ihm das Vaterwerden ermöglicht. Kathy ist stocksauer, tötet Jim und zugleich sich selbst.

Zentral für den Roman: Zwei Männer BEWUNDERN beständig das sinnliche, insbesondere das UNBERECHENBARE Temperament einer Frau, Kathes. Die für MEIN Empfinden seltsamen Züge der Hauptakteurin werden nie von einem der beiden Männer kritisiert, schon gar nicht führt der - ganz leise angedeutete – Ärger Jims und Jules‘ über Kathes seltsames Verhalten dazu, dass Jules oder Jim die Beziehung zu ihr aufgäben.

Für mich befremdlich ist auch, dass Auseinandersetzungen immer wieder mit GEWALT ausgetragen werden - kulminierend in der Ermordung des Freundes und in dem mit diesem geplanten Mord kombinierten Selbstmord.

Befremdlich ist für mich weiter, dass bereits vermutetes, nicht BEWIESENES Fremdgehen des Partners ausdrücklich: „gerächt" wird durch eigenes, absichtliches Fremdgehen. Was mich an diesem Räche-Verfahren stört, ist auch, dass andere Menschen als Waffe instrumentalisiert werden. Diesen lebenden Waffen wird natürlich ihre Funktionalisierung als Waffe verheimlicht, obwohl sonst gern und viel von Offenheit gefaselt wird.

Eine solche Kritik am Verhalten der drei Akteure liegt nahe, kommt aber in dem Buch nicht vor: dabei lässt der Autor seine Hauptfiguren VIEL räsonnieren und er kennt auch ihre Gedanken. „Jules et Jim" besteht zu einem guten Teil aus inneren Räsonnements der beteiligten Personen.

Ein eigenartiger Kult wird um Nachwuchs getrieben. Kathe bezeichnet sich selbst einmal – schon erstaunlich - als „vor allem Mutter". Trotzdem verreist sie häufig wochen-, ja monatelang mit einem ihrer Lover und lässt ihre beiden Kinder zuhause. – Dass die Selbsteinschätzung als Muttertier voll danebengeht, wird nirgendwo im Roman kritisiert.

Freund Jim plant das Kinderkriegen mit einer anderen Frau als Kathe, weil Kathe ihm trotz jahrelanger intensiver Versuche kein Kind gebärt. Als Jim bei einer anderen Frau, der xten seines Lebens, als Zeuger erfolgreich ist (warum erst so spät, wird nirgends gefragt), da bedeutet dieser Vorgang das Ende der Beziehung zu Kathe. Diese versucht, Jim zu erschießen. Als ihr das infolge der Selbstverteidigung von Jim misslingt, versucht sie dasselbe Ziel durch die erwähnte, genau geplante – im Ende LETALE - Autofahrt zu realisieren. Auf eine Art realisiert, dass Ehemann Jules vom Ufer aus den Mord wie den Selbstmord seiner Frau miterleben muss.

Dass Kathe durch diese Tötung ihren angeblich so sehr geliebten Kindern die Mutter entzieht und dem bereits von Jim gezeugten Kind den Vater – dieser eigentlich triviale Gedankengang kommt in dem sonst so räsonnementreichen Buch nicht vor.

Der  Autor Roché kennt Jims innerste Gedanken, etwa eben den, dass Kathe eine wunderbare Frau sei. Auch alle anderen Frauen im Buch werden bewundert. Kritik an Frauen gibt es – wie mir scheint –nicht: Frauen werden durchweg bewundert, inclusive der MUTTER von Jim.

Dass Frauen einander schlimme FEINDINNEN sein können, taucht als BEOBACHTUNG oder GEDANKE in dem Roman nicht auf. Dabei wird im Roman durchaus geschildert, dass die SCHWESTER von Kathe mit deren erklärtem Freund Jim ins Bett gehen will. Das scheint Kathe ihrer Schwester nicht übel zu nehmen, aber ihrem FREUND nimmt sie es übel. Dass zum Fremdgehen immer zwei gehören: nicht nur der Lover, sondern auch die Gelovte, dass Kathe also eigentlich auch ihrer Schwester böse sein müsste, dieser Gedanke kommt nicht vor.

Kurios in meinen Augen ist auch, dass die Männer als besondere Eigentümlichkeit ihrer Freundschaft von Mann zu Mann die FRIEDLICHE Lösung von Konflikten feiern, dass sie aber die Bereitschaft, Konflikte friedlich zu lösen, bei ihren weiblichen Freunden NICHT suchen. Jules und Jim teilen sich Frauen, sie tragen Konflikte diskursiv aus und einigen sich friedlich; sie finden das gut. Aber von der geliebten Kathe verlangen sie eine solche Friedensfähigkeit NICHT. Einmal heißt es im Roman, Jim wünschte sich, dass es zwischen ihm und Kate so friedlich, vernünftig und zivilisiert zugehe wie zwischen ihm und Jules. Aber er fordert von Kathe nichts dergleichen - Nirgends wird der Gedanke geäußert, dass man eine Beziehung beenden sollte, deren Partner nicht zu diskursiven Problemlösungsverfahren bereit ist.

Meine Beurteilung des Romans entspringt der selben Empfindung wie Goethes Ausspruch „Pack schlägt sich, Packt verträgt sich"; will sagen: Wer Konflikte durch ein Hin-und-Her-Gewoge zwischen schlimmem Streit und wortloser Aussöhnung durchlebt, wer Konflikte nicht mit zivilen Mitteln steuern kann, macht sich genau dadurch zu Pack, das heißt: verächtlich.

Jules, der Vater von Kathes Kindern, geht dem gewaltsam ausgetragenen Streit mit seiner Frau aus dem Weg. Ich nehme an, dass er gerade wegen seiner FRIEDENSbereitschaft Kathe an Jim und andere Männer verliert.

Manchmal wird der Roman kitschig, wenn ohne weitere Begründung irgendwelche einfachen Wertungen und scheinbaren Erkenntnisse als bedeutsam und wahr hingestellt werden – obwohl ein denkender Leser sofort Einwände dagegen erheben könnte. Einige Male schwingt sich der Autor zu quasi-philosophischen Äußerungen auf, die ich teils nicht verstehe, teils als aufgesetzt, als forciert, als kitschig empfinde.

Während der Autor sich durchaus die Mühe macht, die Farbe von Kleidern oder die Ausstattung von Zimmern zu notieren, hüllt er sich über sexuelle Vorgänge und das Aussehen von intimen Körperteilen der Akteure bedeckt. Einmal heißt es im Stil von Lore-Romanen: „Kathe enthüllte ihm ihre Geheimnisse". Ein andermal: „Diesmal blieb sie zum ersten Mal kalt.".

Kathe ist mindestens so sehr an Sex interessiert wie Jim. Es heißt auch: SIE wähle ihre Partner aus, nicht die Männer sie. Das glaubt man dem Roman gern. Kathe macht aber auch Sex mit anderen Männern in der Absicht, sich an ihrem Hauptlover zu rächen. Wichtig ist in diesem Fall natürlich, dass der Abgestrafte die Nachricht vom Fremdgehen deutlich serviert bekommt.

Aus dem Duktus des Romans lässt sich erschließen, dass der Autor im Roman durch die Figur Jim repräsentiert wird. Der finale Konflikt zwischen Jim und Kathe, als dieser ihr seine Ambition, mit einer anderen Frau Kinder zu haben, ankündigt und sie daraufhin ihn erschießen will, dieser finale Konflikt wird auch in der AUTOBIOGRAPHIE des Kathe-Sohnes Stéphane Hessel geschildert. Auch im realen Leben, jedenfalls in den Erinnerungen von Sohn Stéphane; geht diesem Pistolen-Streit das Ereignis voraus, dass der Helen-Grund-Lover Henri-Pierre Roché mit einer französischen Frau ein Kind gemeinsam hat und dass Helen-Kathe das erfährt.

NICHT der erlebten Wirklichkeit entspricht der dramatische Schluss des Romans, mit dem Mord-Selbstmord in der Seine. Dieser Schluss gibt dem Roman ein effektvolles Ende. #9;

 

Helen Hessel in Ute Scheubs Buch

„Verrückt nach Leben – Berliner Szenen in den zwanziger Jahren)

Im Frühjahr 2006 stoße ich zufällig auf eine recht ausführliche Befassung mit dem Leben Helen Hessels, in dem Buch „Verrückt nach Leben" aus der Feder der einstigen TAZ-Mitgründerin, Journalistin und Schriftstellerin Ute Scheub.

Ute Scheub sammelt Informationen zu einer Reihe Frauen, die in den zwanziger Jahren in Berlin in Berufen erfolgreich waren, die damals (mehrenteils) Frauen weit schwerer zugänglich waren als Männern: Diese Frauen waren Journalistinnen, Kabarettistinnen, Tänzerinnen, bildende Künstlerinnen; zudem waren unter ihnen einige, die sich durch eine libertine Lebensweise hervortaten. Scheub sieht diese Libertinage als Zeichen einer neuen - teils selbsterrungenen – Freiheit, einer Freiheit, die sich Frauen in Deutschland zuvor nicht zu nehmen gewagt hätten. Das meint die Autorin jedenfalls (Ganz so neu war indes der Beruf der Journalistin nicht, wie ein Blick auf die Schwestern Ludmilla und Ottilie Assing in der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt, oder auf die einstige Cotta-Zeitungsverlags-Redakteurin Therese Huber (geb. Heyne) hundert Jahre früher).

Eine (jedenfalls für Scheub) weniger durch intellektuelle oder künstlerische Produktivität als durch ihren LIBERTINEN Lebensstil herausstechende Frau im damaligen Berlin (eigentlich eher im damaligen PARIS) war die Modejournalistin Helen Hessel: Ihr widmet Ute Scheub in ihrem 2000 erstmals erschienen; 2002 wieder aufgelegten Buch ein eigenes Kapitel mit dem Titel: „Amour fou – Helen Hessel und das Leben in Dreiecken".

Scheub pointiert die Dreiecksposition von Helen als einer Frau zwischen ZWEI Männern. Indes: Helen Hessel war eine Frau zwischen VIELEN Männern (die beiden Männer in der TRIOLE sind uns bekannt geworden oder bekannt geblieben, weil sie SCHRIFTSTELLER waren und über diese Dreiecks-Beziehung veröffentlichten) und auch als Frau mit FRAUEN. - Nach dem großen Crash in der Beziehung Helen / Roché folgte eine mehrjährige Beziehung zu einer FRAU, der Psychoanalytikerin, Handlinien-Forscherin und Schriftstellerin Charlotte Wolff.

Helen Hessel ist für die Autorin Scheub geradezu eine Heroine des freien selbstbestimmten weiblichen Lebens, als dessen wichtigen Bestandteil Scheub eine libertine Sexualität ansieht. Scheubs Stil wird in solchen Augenblicken emphatisch, der Verfasser dieser Zeilen empfindet: kitschig: „Helen Hessel" heißt es da, „groß, athletisch, das Raubtier mit der Löwenmähne. Sie liebte das Drama. Das Risiko. Sie duftete nach Seide und Abenteuer, sie war mutig und sportlich, sie ging immer bis zur äußersten Grenze und darüber hinaus.... ein perfektes Beispiel einer befreiten Avantgardistin"

In ihrer Emphase unterlaufen Scheub auch Widersprüche. Die Autorin schildert auf ein und derselben Seite als Merkmale des Ehemanns von Helen: Franz Hessel sei „keusch" und „hingebungsvoll" gewesen, „er gab nur und nahm nichts, las ihr vor, führte sie aus, er verehrte sie, so wie sie war... einen besseren Ehemann konnte sie sich zunächst nicht vorstellen." Auf der selben Seite heißt es dann aber zur Begründung und Rechtfertigung Helens, warum sie sich von ihrem Ehemann abwandte und anderen Männern zu: Sie habe „die ganze ‚Liebesarbeit‘ leisten" müssen. – Wie beide Beurteilungen unter EINEN Hut passen sollen, entzieht sich dem Verständnis des Verfassers dieser Zeilen.

In einem Tonfall des Einverständnisses mit der untreue Ehefrau schreibt Scheub: „Zu jener Zeit (sc. im Ersten Weltkrieg) machte Helen endgültig Schluss mit der ehelichen Treue. Mal liebte sie diesen, mal jenen, und Franz ließ sie gewähren."

Das verstehe, wer will. Vielleicht muss man den speziellen Liebesbegriff der Autorin beachten, der an anderer Stelle zutage tritt (der aber nicht als EIN Liebesbegriff unter sehr verschiedenen, einander ENTGEGENGESETZTEN Liebeskonzeptionen benannt wird, sondern als selbstverständlich erscheint, so als ob JEDER das unter Liebe verstehe, was Scheub darunter versteht, nämlich „leidenschaftliche Liebe voller Kampf und Gewalt" (S. 121) oder S. 122: „Die beiden konnten nur liebend kämpfen und kämpfend lieben, sie wollten beide die absolute Bindung und die absolute Freiheit."

In letzterem Satz kulminiert die Verehrungshaltung der Autorin Scheub. Sie scheint der Meinung, „absolute Bindung und absolute Freiheit" könnten zusammengehen, zumindest scheint sie anzunehmen, es bedürfe besonderer Intelligenz, den Unsinn einer solchen Kopplung zu erkennen.

Wenn es um die Beurteilung der Beziehung Helens zu ihren zwei berühmtesten Lovern geht, kritisiert Scheub zwar den HAUSFREUND, nicht hingegen die von ihr verehrte und bewunderte Helen. Scheub berichtet, dass Helen in einer der Triolen-Phasen schwanger wurde (unklar von wem, aber wahrscheinlich von Henri-Pierre), dass sie dann abtreiben ließ, dass danach nur der abgehalfterte Ehemann Helen in der Klinik besuchte, „der feige Erzeuger Pierre nicht." - Scheub zögert nicht, Pierre als „feig" zu verurteilen, Helen hingegen wird nicht kritisiert, dabei war sie eine Frau, die trotz solcher verächtlichen Feigheit ihres Freundes bei eben diesem Freund bleibt und die ihrem Ehemann Franz den Laufpaß gibt.

Am einen Ort wird die STARKE Helen gepriesen. Wenn sich aber diese Gloriole partout nicht erneut um ihren Schädel streifen lässt, heißt es bei Scheub entschuldigend: „Unfähig zur Bindung, unfähig zur Trennung, verharrten sie in hilfloser Verstrickung." (124).Es fällt wenigstens einmal das Wort „hysterisch". Diese Kritik mindert aber wenig am insgesamt bewundernden Duktus der Scheubschen Helen-Präsentation.

Immer wieder macht sich die Autorin die (zum Teil vermutete) Selbstdeutung von Helen zu eigen: etwa: Ehrlichkeit sei das „wichtigste Fundament" der Beziehung gewesen, schreibt Scheub, so, als ob Helen nicht ständig ihren Lover angelogen habe und Wahrheit ausgesprochen zynisch benutzte als Waffe zur Verletzung des Partners. Rühmend heißt es bei Scheub: „Helen hatte immer das Absolute gewollt" (128)

Zum Schluss des Kapitels kommt die Autorin zu dem - vom bisherigen Duktus der Darlegung her überraschenden – Fazit, dass die Beziehung Helen – Pierre „ein unendlicher Reigen der Egozentrik" gewesen sei. Gemessen an den vielen Lobhudeleien zuvor erscheint mir diese Kritik als aufgesetzt.

In ein seltsames Licht gerät die freiheitliebende Helen Hessel auch, wenn es stimmt, weshalb Charlotte Wolff die Freundschaft mit ihr aufkündigte: wegen einer ANTISEMITISCHEN Schmähung.

Zusammenfassend darf man behaupten: Ein Liebeslebenslauf wie der von Helen Hessel (und der von weiteren Frauen in dem Buch Ute Scheubs) belegt weniger, dass Frauen sich ein neues Lebensfeld erobert haben als vielmehr, dass sie jetzt für die Rechtfertigung von (gar nicht so neuen) menschlichen oder fraulichen Bedürfnissen auf ein praktikables Ideologem namens „Befreiung aus Zwängen" zurückgreifen können.

Meine harsche Kritik an Scheubs Hessel-Deutung schmälert nicht meine Bewunderung für andere Passagen ihres flüssig geschriebenen, informativen Buchs. „Verrückt nach Leben" dürfte bisher das erste in deutscher Sprache sein, das die (im weiteren Sinn) literarisch tätigen Frauen der Zwanziger Jahre in Berlin ausgiebig vorstellt und auch ihr ferneres, meist durch äußere oder innere Emigration gekennzeichnetes Leben nicht unter den Tisch fallen lässt. Zudem liefert Scheub eine Untersuchung, die nicht, wie zahlreiche andere frauengeschichtliche Darlegungen, jene Sinnenfeindlichkeit weiterträgt, die typisch war für andere, berühmte Vertreterinnen der deutschen Frauenbewegung, etwa Gertrud Bäumer oder Marianne Weber.

 

Hier die Ergänzungen von H. Schwarzer:

Helen Hessel starb nicht in den "70er Jahren", sondern 1982.
Sie war nicht "hochbetagt", als sie sich mit der Lolita-Uebersetzung befasste, sondern Anfang siebzig.
Ihre letzten Lebensjahre waren nicht "von Not" gezeichnet. Helen ging 1947 zu ihrem Sohn Stephane in die USA und kehrte bereits 1950 wieder nach Paris
zurueck. Sie lebte seitdem mit ihrer Freundin Anne-Marie Uhde in einer
Wohnung der Villa Adrienne, 19 ave. du General Leclerc. Sie mag
bescheiden gelebt haben - von Not konnte keine Rede sein.

 

Bibliographische Ergänzungen:

Nieradka, Magali Laure: Der Meister der leisen Töne. Biografie des Dichters Franz Hessel in Selbstzeugnissen und aus der Sicht seiner Zeitgenossen, Igel Verlag, Oldenburg 2003

Henri-Pierre Roché: An Introduction. By Carlton Lake & Linda Ashton.
1991: Harry Ransom Humanities Research Center, Univ. of Texas at
Austin. 238 S. ISBN 087959-113-7 (Hervorragend gestalteter Ausstellungskatalog!).

Free Spirits: Henri-Pierre Roché, Francois Truffaut and the Two
English girls. By Ian Mackillop. 2001: Bloomsbury, london. ISBN
0747552606. (Die Geschichte von Rochés Liebesbeziehung zu zwei
englischen Schwestern).

Franz Hessel. "Nur was uns anschaut, sehen wir". Ausstellungsbuch.
Erarbeitet von Ernest Wichner. 1998: Literaturhaus Berlin.
 

 

 

 

 

Veit Feger

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

zurück zur Hauptseite