Ein US-amerikanischer Enkel nahm dem deutschen Großvater viel  Arbeit ab

Ein langer und weiter Weg war es, bis NS-kritische Tagebücher aus der Zeit des Dritten Reichs gedruckt wurden

 

 

Im Jahr 2011 erschienen im Göttinger Wallstein-Verlag die politischen  Tagebücher, die ein  Gerichtsbeamter  des Mittleren Dienstes im hessischen Städtchen Laubach während des Dritten Reichs mit viel Engagement notierte. Der Verfasser Martin Kellner (1885-1970) http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Kellner war sich der Lebensgefahr bewusst, in die er sich damals begab, wenn er ein solches regime-kritische Tagebuch  führte. – Dass es erst  im Jahr 2011, also  65 Jahre NACH dem Ende der Notate,  zur Veröffentlichung dieser Tagebücher in zwei Bänden mit insgesamt 1128 Seiten kam, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-80726247.html das  „ist eine lange Geschichte“ und teilweise eine  sehr ungewöhnliche.

 

Eine wichtige Rolle bei der Veröffentlichung spielte ein Enkel des Autors, der in den USA aufwuchs und  als junger Mann dank eigener Suche seinen  Großvater kennenlernte, im Jahr 1960; der Großvater  Friedrich Kellner war damals bereits 75 Jahre alt. - Martin Scott Kellner erhielt von seinem Großvater  acht Jahre später,  zwei Jahre vor dessen Tod,  diese Tagebücher, immerhin zehn Bände.

Martin Scott  akzeptierte den Wunsch seines Großvaters, diese Tagebücher als Vermächtnis zu behandeln und  sie  zu veröffentlichen. Daraus wurde für ihn eine Lebensaufgabe. Jetzt, JAHRZEHNTE nach den ersten Schritten in Richtung Veröffentlichung,  ist diese Aufgabe  zu einem  Abschluss gekommen.

 

Wesentliche Stationen dieser Geschichte auf zwei Kontinenten

 

Das Ehepaar Friedrich und Pauline Kellner hatte ein einziges Kind, einen Sohn, geboren kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs. Dieser Sohn  wurde von den Eltern Mitte der 30er Jahre in die USA geschickt; es hieß damals, er solle  nicht vom  NS-Regime in die Wehrmacht gepresst werden. Vielleicht war der Grund aber auch, dass der Sohn ein begeisterter junger Nationalsozialist war, der Vater hingegen ein „alter“ engagierter Sozialdemokrat.

Dieser  Sohn  heiratete später in den USA und wurde Vater dreier Kinder, fand aber am Vater- und Eheleben keinen Gefallen, er absentierte sich bald nach der Geburt seines Sohnes Martin Scott (1941) so ziemlich auf Nimmerwiedersehen.

 Auch die Mutter der drei Kinder, eine US-Amerikanerin, verdünnte sich; sie wollte Revue-Tänzerin werden. Die drei Kinder kamen im Alter von wenigen Jahren in ein Waisenheim. Ihr Vater ging zur US-Army, wurde mit ihr während des Zweiten Weltkriegs nach Europa geschickt, blieb dort auch nach Kriegsende,   brachte sich nur recht und schlecht durch und tötete sich 1953 in Paris.

Auch sein Sohn Martin Scott, geboren 1941,  war zunächst alles andere als „ein Erfolg“.  Er brach die Schulausbildung vorzeitig ab, heuerte 1958 bei der US-Army an und wurde von dieser als 19jähriger im Jahr 1960 nach Arabien geschickt. Zur Route gehörte ein   Zwischenstopp in Europa, genauer in Frankfurt.  Scott  wusste damals nur, dass er einen deutschen Großvater habe, den seine Mutter   - wohl aus Enttäuschung über ihren verantwortungslosen Ehemann  - als Nazi bezeichnete und dass dieser Opa  in einem Ort namens Laubach wohne.

Während des 48stündigen Zwischenstopps in Frankfurt  absentierte sich  Martin Scott unerlaubterweise von der Truppe und machte sich auf die Suche nach jenem Opa namens Kellner.

Das war nicht einfach: schließlich gab es damals in Deutschland MEHRERE Orte mit Namen Laubach,  und Martin sprach kein Deutsch.

Jahrzehnte später schildert Scott Kellner  der US-Journalistin Marietta Pritchard, wie es ihm damals, im Jahr 1960,  bei der Suche nach dem ominösen Opa ging. Drei Orte namens Laubach hatte Martin bereits abgeklappert – ergebnislos und ziemlich gefrustet:  Wenn Scott  radebrechend einen Deutschen nach einem „Kellner“ fragte, wurde er ins nächste Wirtshaus geschickt….

Während der Annäherung an sein viertes „Laubach“,  auf dem Bahnhof des hessischen Städtchens Hungen, hatte Scott  richtig   Glück.  Er sprach wie üblich jemand an;  es war eine nette junge Frau, und diese wusste, dass es in der Hungener Nachbarstadt Laubach eine Familie Kellner gibt. Sie brachte den hilfsbedürftigen jungen GI direkt zu jener ihr bekannten  Familie Kellner in Laubach / Oberhessen.

Noch war nicht ganz gewiss, ob dieses Ehepaar das richtige sei, aber Scott  hatte ein Foto seines Vaters als jungenMannes dabei, und die  Kellners von Laubach besaßen  genau das selbe Foto aus der Mitte der 30er Jahre.

Nun war alles klar.

Der Besucher aus den USA  äußerte bei der ersten Unterhaltung gegenüber seinem Großvater das ihm von seiner Mutter in Erinnerung gebliebene  Wort „Nazi“…. Der Großvater  ging ins Esszimmer, holte dort aus einem Versteck  eine Reihe Notizbücher und deutete auf den Titel des ersten dieser Bände, mit der Aufschrift „Mein Widerstand“. Dem jungen Gast wurde  klar, dass seine Mutter  zu Unrecht vom „Nazi-Opa“ geredet hatte.

Die Großeltern baten den Gast, er möge  sich doch, wenn er die Militärzeit hinter sich und  Sicherheit im Leben gefunden habe, die Tagebücher seines Großvaters veröffentlichen.

Das empfand Martin Scott als Vermächtnis und als Pflicht, eine Pflicht, die sein Leben änderte und ihm eine Richtung gab.

Nach der Rückkehr zu seinem US-Army-Standort fand Martin Scott verständnisvolle  Vorgesetzte; er hätte schließlich für sein unerlaubtes Wegbleiben hart bestraft werden können.

Martin  änderte sein Leben: Er erwarb einen Schulabschluss; er studierte und erwarb 1977 sogar einen Doktorhut, einen PhD. Er unterrichtete an einer US-Universität Englisch und Deutsch – Deutsch  mit Blick auch auf das Verstehen der Tagebücher seines Großvaters, auf deren Veröffentlichung  und deren Übersetzung ins Englische. Im Jahr 1968, bei einem zweiten Besuch bei den Großeltern in Laubach, übergab ihm der Großvater die gehüteten Tagebücher, die er selbst nie herauszugeben unternommen hatte – vielleicht, weil er doch zu viel Gegenwind im Deutschland der Nach-NS-Zeit befürchtete.

 

In den USA unterrichtete  Martin Scott von 1979 bis 1985 an einer Universität in Texas und machte sich dann zwecks besseren Verdiensts im Jahr 1985 selbständig.  Er wollte sich mit dem (hoffentlich) verdienten Geld  so bald als möglich zur Ruhe setzen, um das Versprechen zu erfüllen, das er dem Großvater gegeben hatte. Im Alter von 58 Jahren, anno 1999, konnte  Martin Scott seinen (finanzierten) Ruhestand beginnen. 

Schon 1973 hatte er mit dem  Reinschreiben und Übersetzen der  Tagebücher begonnen, nun, zum Ende des Jahrhunderts, ging er dann  richtig zur Sache. Zunächst  übertrug Scott  die in Sütterlin-Schrift notierten Tagebücher in reguläre Druckschrift und übersetzte den Text dann ins Englische.

Er versuchte, einen deutschen Verlag für die Herausgabe der Tagebücher zu finden, erlebte aber bei diesem Bemühen jahrelangen Misserfolg.

Ein entscheidender Schritt nach vorn Richtung Publikation war eine Ausstellung der Tagebücher im Jahr 2005, vorbereitet von  Martin Scott Kellner in der Präsident-Bush-Gedächtnis-Bibliothek in Texas, in der Nähe seines Wohnorts.  Von dieser Ausstellung nahm das deutsche Magazin „Spiegel“ Notiz. Die Existenz der Tagebücher wurde endlich in Deutschland öffentlich bekannt. Ein Forschungsinstitut an der Uni Giessen  unter Prof. Erwin Leibfried und seinem Nachfolger Sascha Feuchert nahm sich der sachgerechten Edierung und Erläuterung der Tagebücher an. Unter Mitarbeit weiterer Forscher und natürlich des Enkels von Friedrich Kellner kam es dann endlich im Jahr 2011 zur Drucklegung in zwei  dicken  Bänden.

 

Warum ich diesen Text verfasste? – Erstens, weil ich in deutschen Veröffentlichungen keine mich befriedigende Antwort auf meine  Frage fand, die Frage, warum es soooo lang dauerte, bis ein handgeschriebener Text, der 1945 abgeschlossen wurde, endlich in GEDRUCKTER  Form vorliegt, des weiteren,   weil die Angaben über die zweitwichtigste Person bei diesem Vorgang, nämlich den Enkel Martin Scott Kellner, recht dürftig waren,  und drittens weil mich das Ungewöhnliche an dem Schicksal des Enkels und der Tagebücher berührte.                                      

Veit Feger, Januar  2012.

 

(Diesem von V. Feger verfassten Text lagen mehrere US-amerikanische Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze aus den Jahren seit 2005 bis 2011 zugrunde, insbesondere von David Casstevens (Jewish World Review Mai 2007), von Aaron Howard im Jewish Herold Voice, http://jhvonline.com/with-the-publication-of-a-wartime-diary-in-germany-a-grandson-keeps-a-fami-p11843-96.htm  und von Marietta Pritchard in der Online-Zeitschrift der Uni von Massachussetts http://umassmag.com/Fall_2005/A_Promise_To_Keep_962.html

(beide September 2011). 

 

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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