Zwei außergewöhnliche Frauen –

zwei schreckliche Schicksale

Zur Geschichte von Sexualaufklärung und Frauenemanzipation in Spanien

"Auroras Anlass" ist der erste Roman des zeitgenössischen österreichischen Autors Erich Hackl, 1987 erstmals (bei „Diogenes") erschienen. Dieser Roman schildert das ungewöhnliche Leben einer Mutter und ihrer Tochter. Eines der wenigen WEIBLICHEN Genies, die in der spanischen Geschichte bekannt geworden sind, wird als 19-Jährige von der eigenen Mutter getötet. Die Namen von Mutter und Tochter: Aurora und Hildegart. - Die Schilderung basiert auf Fakten und umfasst mit Vor- und „Nachspielen" den ungefähren Zeitraum 1890 bis 1950. - Hackl hat, vermute ich, das, was sich aus den Fakten nicht ermitteln ließ, mit dichterischer Phantasie gefüllt haben. Im folgenden erlaube ich mir, eine mir sinnvoll erscheinende Zusammenfassung des Buchs von Erich Hackl, erweitert um einige eigene Untersuchungsergebnisse.

Vor- und Nachteile einer romanhaften Aufarbeitung

In Deutschland waren die beiden eng verknüpften Schicksale von Mutter und Tochter VOR dem Buch von Erich Hackl sicher nicht bekannt. Da Hackls Text als ROMAN verkauft wird, liegt nahe, dass das reale Leben der beiden Frauen nach wie vor nicht groß in ein wie auch immer geartetes öffentliches Bewusstsein eingedrungen ist, weil man von Romanen ja selten Informationen über TATSÄCHLICHE Ereignisse erwartet.

Ein Erinnern an Hildegart Rodriguez im Jahr 2003

Dass Aurora und Hildegart Rodriguez, insbesondere die zweite dieser zwei Frauen, aber heute nicht völlig vergessen sind, zeigt sich daran, dass erst im Jahr 2003 ein größerer Aufsatz über Hildegart in den USA ins Internet gestellt wurde; der US-Kontext dieses Aufsatzes: die Geschichte der Sexualaufklärungsbewegung; Hildegart spielte in dieser Bewegung in SPANIEN eine beachtliche Rolle.

Beim Versuch, Frauen über Verhütungsmethoden zu unterrichten, machte Hildegart Rodriguez ebenso schlimme Erfahrungen mit christlicher Moral und patriarchalen Einstellungen und Verhaltensweisen wie die amerikanischen Sexualaufklärerinnen Emma Goldman und Margaret Sanger.

Der US-amerikanische Aufsatz aus dem Jahr 2003 beruht auf einer Quelle, die Hackl wohl nicht kannte, nämlich auf dem Briefwechsel zwischen Hildegart Rodriguez auf der einen und zwischen der US-Aufklärerin Margaret Sanger und dem berühmten englischen Sexualwissenschaftler Havelock Ellis auf der anderen Seite. - Sanger und Ellis sind, wie sich an ihren gegenseitigen Briefen zeigt, begeistert von der damals noch blutjungen spanischen Schriftstellerin, Agitatorin und Politikerin Hildegart.

Nun zum Inhalt des Romans - und zur Biographie von Mutter Aurora und Tochter Hildegart.

Aurora Rodriguez versucht, sich zu emanzipieren

Die junge Aurora wächst in der Familie eines Rechtsanwalts in einer nordwestspanischen Kleinstadt um die Wende zum 20. Jahrhundert auf. Ihr Vater äußert sich des öfteren kritisch über die damalige monarchische Regierung, über „die herrschende Klasse", über die Ausbeutung der Lohnabhängigen, über die Unterdrückung der Frauen etc. Seine Tochter Aurora ist beeindruckt. Sie darf mit der Zeit bei den Unterhaltungen des väterlichen Männer-Freundeskreises zuhören – ungewöhnlich für die damalige Zeit und ihre deutliche Frauenbenachteiligung.

Als die jugendliche Aurora ihren Vater dazu gewinnen will, aus seiner Gesellschaftskritik TÄTIGE Konsequenzen zu ziehen, wird sie abgewiesen. Sie erlebt auch anderswo als junge Frau Zurückweisungen, die sie um so mehr schmerzen, als sie ja ein interessierter, wissbegieriger, handlungsorientierter Mensch ist.

Ein Brief an den Frühsozialisten Charles Fourier

Besonders angetan haben es Aurora Bücher des französischen Frühsozialisten Charles Fourier, aufgefunden in der Bibliothek des Vaters Fourier zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er vergleichsweise vorurteilsarme Ansichten über menschliches Sexualverhalten vertritt.

Die junge Aurora ist begeistert; sie versucht, mehr über diesen französischen Autor zu erfahren; sie schreibt einen Brief an den spanischen Verleger des Buchs und fragt nach dessen Adresse; sie muss erfahren, dass Fourier schon seit Jahrzehnten tot ist.

Der Vater stirbt, als Aurora Anfang zwanzig und damit volljährig ist. Sie erbt ein kleines Vermögen, das es ihr erlaubt, aus ihrer Heimat wegzuziehen nach Madrid, dort ein Kind aufzuziehen, es weitgehend selbst zu unterrichten und in dieser Zeit nicht arbeiten zu müssen.

Aurora will eine TOCHTER!

Aurora entschließt sich, ein Kind - möglichst ein MÄDCHEN – zur Welt zu bringen, das als Erwachsene jene Gesellschaftsreformen anpackt, zu denen sie selbst sich außerstande sieht (vermutlich, weil sie glaubt, zu spät mit ihrem Engagement zu beginnen, und weil sie sich selbst vielleicht nicht für innerlich frei genug hält). Das Kind soll ein MÄDCHEN sein, weil Mädchen und Frauen Aufklärung besonders nötig haben, weil sie andererseits mindestens ebenso sehr wie Männer zum Erhalt der alten Macht-Verteilung zwischen den Geschlechtern beitragen.

Ungewöhliches Verfahren, Nachwuchs zu zeugen

Aurora Rodriguez gibt eine Anzeige in der Zeitung ihrer Heimatstadt auf. Sie sucht darin einen Mann, der ihr ein Kind macht, einen Mann, den sie aber laut Anzeigentext nicht heiraten will und der so etwas auch nicht von ihr erwarten dürfe.

Auroras Bruder, ein junger Offizier, wird nach der Veröffentlichung der Zeitungsanzeige von seinen Freunden ausgelacht wegen dieser verrückten Schwester. Der Bruder schlägt Aurora, merkt aber dann, dass es seiner Schwester mit ihrem Vorhaben sehr ernst ist und er mit seiner brachialen Gewalt nichts ausrichtet.

Bei Aurora meldet sich aufgrund der Anzeige ein gutaussehender Mann, der sich als Pfarrer für Seeleute vorstellt. Mit ihm zusammen zeugt Aurora ein Kind, das auch - wunschgemäß - ein Mädchen wird. Aurora hat einen Aufsatz darüber gelesen, wann bei Zeugungsakten eher weibliche und wann eher männliche Föten gezeugt werden; entsprechend plant sie auch den Zeugungsakt. Mit Erfolg. - (Was diesen Zeugungsakt und alles, was damit zusammenhängt, betrifft, lässt der Autor Hackl seine sonst sicher gut entwickelte Erfindungsgabe rein gar nicht walten, obwohl er sonst auch mal von Gegenständen erzählt, die ich als unwichtig für die Geschichte empfinde)

Aurora hat sich durch die Lektüre vieler Bücher darüber kundig gemacht, wie man während einer Schwangerschaft möglichst gesund lebt, und sie verhält sich entsprechend. Sie verhält sich so auch während ihres weiteren Lebens: Sie ist in höchstem Maße verstandesgeleitet und dabei von erstaunlicher, meistens bewundernswerter Energie.

Aurora nennt ihre 1914 in Madrid geborene Tochter "Hildegart". Warum dieser deutsche Name? - Der Autor dieser Zeilen vermutet, dass Aurora etwas von Hildegard von Bingen gelesen hat. Diese deutsche Frau des Mittelalters beeindruckte durch Kenntnisse, durch Selbständigkeit und Mut.)

Die Mutter unterrichtet ihre Tochter selbst

Die Tochter erringt schon früh Auszeichnungen

Aurora unterrichtet ihre Tochter von frühester Kindheit an. Die Tochter kann mit zwei Jahren lesen und wird mit drei oder vier Jahren bereits eingeschult. Als 12-jährige erringt sie bei einem Essay-Wettbewerb den ersten Preis; die Aufgabe lautete: "Vergleiche die Liebesvorstellungen von Abälard / Heloise, Romeo / Julia und in dem berühmten Roman eines spanischen Schriftstellers." - Ebenfalls mit 12 Jahren erringt Aurora die Universitätsreife und studiert Jura; sie schließt die Prüfung für den Anwaltsberuf mit 16 Jahren ab. Nach spanischem Recht darf sie diesen Beruf frühestens ab 21 Jahren ausüben.

Eine 16-Jährige schreibt ein Buch über Empfängnisverhütung

Nach ihrer Jura-Abschlussprüfung studiert Hildegart Medizin und Philosophie. Medizin vor allem deshalb, weil sie Frauen dabei helfen will, Schwangerschaften zu vermeiden. Aufklärung in dieser Richtung ist in den Folgejahren eines ihrer zentralen Anliegen. Sie schreibt bereits als 16-jährige ein Buch über das Thema Empfängnisverhütung.

Hildegart tritt als 14jährige bereits in einen Gewerkschaftsjugendverband und eine sozialistische Partei ihres Heimatlandes ein. Wegen ihrer Verhütungsbücher kriegt sie Probleme mit der Partei. Diese schließt sie aus.

Linke sind nicht unbedingt für mehr Frauenrechte

Nun fügen wir etwas zu Hackls Schilderungen hinzu:

Die vorgenannte Aufklärungsfeindschaft in linken, also arbeiterfreundlichen Parteien gab es nicht nur in Spanien, sondern ebenso in anderen westlichen Ländern, in Deutschland, in den USA, der Schweiz und wohl in noch mehr Ländern. Die erste hauptberufliche Schweizer GewerkschaftssekretärIN, Margarethe Hardegger, die US-Amerikanerin Margret Sanger, die führende US-Anarchistin Emma Goldman, die Hamburger Sozialdemokratin Wartenberg bekamen wegen ihres öffentlichen Engagements für Geburtenregelung (zum Teil große, bis zum Ausschluss führende) Probleme mit den Parteien oder Gewerkschaften, denen sie angehört und sich bereits hervorgetan hatten.

Zurück zu Hackl: Hildegart wird bei dem Versuch, in einem Dorf einen Vortrag zum Thema Empfängnisverhütung zu halten, attackiert, verfolgt, verjagt. Einige Gewerkschaftler und Parteimitglieder wollen nichts von Verhütung wissen. Es kommt indes auch vor, dass Hildegart von engagierten Gewerkschaftlern, vor allem von weiblichen Mitgliedern, eingeladen wird, Vorträge über das besagte Thema zu halten.

Immer wird Hildegart bei solchen Vorträgen von ihrer Mutter Aurora begleitet (das entspricht spanischen und auch sonst in Europa damals verbreiteten Anstandsregeln).

Die 19-jährige Hildegart wird von Havelock Ellis eingeladen

Als Hildegart 19 ist, dolmetscht sie für den berühmten englischen Schriftsteller H. G. Wells bei dessen Spanien-Reise. Wells bietet ihr an, nach England zu kommen und dort mit einem Stipendium weiterzustudieren. Sie erhält auch eine Einladung von dem Sexualforscher Havelock ELLIS, der auf Hildegarts Buch zur Schwangerschaftsverhütung aufmerksam geworden war.

Eine Tochter will sich von der Mutter emanzipieren

Dann wird Hackels Darstellung unklar. Es scheint, als ob Hildegart die Angebote aus England annehmen will. Sie scheint auch erstmals einen männlichen Freund zu haben, den stellvertretenden Vorsitzenden der Föderalen Partei, der sie beigetreten ist, nachdem sie aus der sozialistischen Partei ausgeschlossen worden war.

Hildegart verlässt in diesem Alter jetzt erstmals das Haus OHNE ihre Mutter, sie hält sich den ganzen Tag OHNE ihre Mutter außer Haus auf, sie verrät der Mutter auch nicht, was sie in dieser Zeit tut, sie sperrt sich, wenn die Mutter partout mit ihr über ihr Verhalten reden will, in ihrem Zimmer ein.

Die Mutter will diesen Versuch der Verselbständigung brechen; sie hält der Tochter vor, dass sie diese ihre geistige und ethische Besonderheit, ihre frühe geistige Produktivität und ihre ganze Berühmtheit der Mutter verdanke, dass sie aber jetzt ihr, der Mutter, gegenüber schrecklich undankbar sei.

Später wird die Mutter vor Gericht erklären, der Widerstand der Tochter gegen ihre, Auroras, Wünsche habe nach diesen Vorhaltungen nachgelassen; die Tochter habe zu weinen begonnen und dann sogar der Mutter erklärt, sie sei gar nicht WÜRDIG, die hehren Absichten, die die Mutter mit ihr hatte, zu verwirklichen. Die Tochter bittet DIE Frau, die ihr das Leben gegeben hat, ihr dieses nun auch zu nehmen. – Die Tochter bittet (laut Aussage der Mutter vor Gericht) so lange um das Getötetwerden, bis die Mutter ihr verspricht, diese Bitte zu erfüllen.

Die Mutter verwendet für die Tötung ihrer Tochter einen Revolver, den sie einige Monate zuvor auf dem Schwarzmarkt gekauft hat, weil es Attacken auf sie und vor allem ihre Tochter gegeben hatte: Per Telefon hatten sie Beschimpfungen hören müssen wie: "Ihr rotes Pack", "ihr Huren", "Wir werden es euch schon zeigen!".

Die Mutter stellt sich der Polizei und wird verurteilt

Nach der Tötung der schlafenden 19-jährigen Tochter stellt sich die Mutter sofort der Polizei. Sie wird ein Jahr später, 1934, zu rund 25 Jahren Haft verurteilt und bald darauf in eine psychiatrische Anstalt weitergeleitet. Während des Prozesses hatte ihr Pflichtverteidiger versucht, sie als unzurechnungsfähig darzustellen, wogegen sich die Mutter aufs schärfste verwahrte.

Die Chefs flüchten - eine "Verrückte" organisiert das Irrenhaus

Die psychiatrische Anstalt gerät (wenn man so sagen kann) zwischen die Fronten der Parteien des spanischen Bürgerkriegs. Das Krankenhaus-Personal flüchtet vor den Kämpfen. Aurora organisiert nun die Selbstverwaltung und Verpflegung der Insaßen. Zuvor hatte sie schon gegenüber der überkommen Anstaltsleitung kluge Vorschläge für eine humanere Unterbringung und Behandlung der Insaßen gemacht.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Mutter-Tochter-Geschichte zum Thema von Texten und einem Film. Eine größere buchmäßige Befassung mit dem Thema scheint es aber vor Erich Hackls Text von 1987 nicht gegeben zu haben, zumindest nicht im deutschen Sprachraum.

Meine Kritik an Hackls Buch

An einigen Stellen des Hacklschen Romans stellt sich mir das Problem, dass ich nicht weiß, wer von den Hauptakteuren nun gerade spricht und woher genau ein als Zitat durch Kursivschrift kenntlich gemachter Satz stammt.

Hackl macht in seinem hundertfünfzigseitigen Text für MICH nicht zureichend klar, was als Fakt gelten kann und was seine eigenen Gedanken zu einer sinnvollen Verknüpfung der Fakten sind.

Veit Feger

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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